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Russland: Aus der Armee direkt in die Armut

Moskau entlässt Soldaten in eine ungewisse Zukunft. 200.000 Angehörige der Truppen sollen gehen.

Moskau - Wenn Gennadi, Taxifahrer in Wladikawkas, der Hauptstadt Nordossetiens, spätabends Kassensturz macht und mehr als 500 Rubel (15 Euro) eingenommen hat, war es ein sehr guter Tag für ihn. Gennadi, 35 Jahre alt, diente noch vor kurzem in den Truppen des Innenministeriums: Elite-Einheiten, die bei inneren Wirren die „verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherstellen und Terroristen bekämpfen sollen. Insgesamt 100 000 Mann, die außer dem Waffenhandwerk nichts gelernt haben. Ihre Chancen auf einen Job im zivilen Sektor tendieren daher gegen Null. Dennoch steht der Truppe zu Beginn kommenden Jahres ein personeller Aderlass bevor, schlimmer noch als 1991, als sich Sowjetunion und Kommunismus auf die Müllkippe der Geschichte verabschiedeten.

Die Armee soll gesundgeschrumpft werden. Über Details informierten Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow – als Zivilist und ehemaliger Möbelgroßhändler bei der Generalität und bei der kämpfenden Truppe gleichermaßen unbeliebt – und Generalstabschef Nikolaj Makarow in diesen Tagen im Senat. Die Anhörung fand hinter verschlossenen Türen statt. Denn das Vorhaben ist ein sozialer Sprengsatz.

Im ersten Quartal des nächsten Jahres sollen in den Streitkräften mehr als 205 000 Planstellen für Berufssoldaten und zivile Angestellte gestrichen werden. Nur knapp die Hälfte aller Entlassungskandidaten hat 25 Dienstjahre auf dem Buckel und damit Anspruch auf Rente und eine Wohnung. Für weitere 50 000 mit wenigstens 20 Dienstjahren wird nach einer sozialverträglichen Lösung gesucht. Der Rest – etwa 57 000 jüngere Berufssoldaten – wird mit einem warmen Händedruck ins soziale Nichts verabschiedet. Ebenso hunderte hochqualifizierte Spezialisten, die in Offiziersschulen oder Militärakademien unterrichten.

Dass die sensibelste Stufe der vor Jahren begonnenen Militärreform zeitlich mit dem Höhepunkt der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise zusammenfällt, den Russland für Februar erwartet, erklären Experten wie Alexander Goltz mit dem Georgien-Krieg. Moskaus Sieg könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Armee Kriegen des 21. Jahrhunderts nach wie vor nicht gewachsen sei, sagt er. Diese Kriege würden mit Präzisionswaffen entschieden, von denen in Russland bestenfalls Prototypen existieren. Die Mittel für eine Massenproduktion, die schon vor der Krise fehlten, sollen durch radikale Senkung der Personalkosten erwirtschaftet werden.

Für die Betroffenen ist das Maß damit voll. Der „Bürger in Uniform“ wehrt sich bereits und fordert den Rücktritt von Präsident und Regierung. An Protesten von Berufssoldaten beteiligten sich am vergangenen Wochenende sehr viel mehr Menschen als bei den Aufmärschen, die Ex-Schachweltmeister Gary Kasparow in Moskau organisierte. Auf ebendiese Klientel setzt auch Kommunistenchef Gennadi Sjuganow, der schon im November eine „vorrevolutionäre Situation“ wie 1917 ausmachte. Auch für Lenins Oktoberrevolution, so Sjuganow, seien meuternde Matrosen und Soldaten entscheidend gewesen. Elke Windisch

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