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Politik: Russland: "Zum Teufel mit diesem Befehl"

Mit der Festnahme der altkommunistischen Putschisten endete heute vor zehn Jahren der Staatsstreich in der Sowjetunion, der die Welt drei Tage lang in Atem gehalten hatte. Maria Leonene-Kopelew hat die dramatischen 72 Stunden in Moskau selbst miterlebt.

Mit der Festnahme der altkommunistischen Putschisten endete heute vor zehn Jahren der Staatsstreich in der Sowjetunion, der die Welt drei Tage lang in Atem gehalten hatte. Maria Leonene-Kopelew hat die dramatischen 72 Stunden in Moskau selbst miterlebt. Die gebürtige Berlinerin und Witwe des 1997 verstorbenen Bürgerrechtlers Lew Kopelew war dabei, als Bürger das Parlament gegen Panzer verteidigten.

Eigentlich habe sie am 19. August 1991 ausschlafen wollen, erinnert sich die 69-Jährige. Um sieben Uhr riss sie aber ihr damaliger Mann Vlada Leonas aus dem Schlaf. Der Rundfunk meldete, der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow könne "aus gesundheitlichen Gründen sein Amt nicht mehr wahrnehmen". Ein achtköpfiges "Notstandskomitee" habe die Macht übernommen und seinen Stellvertreter Janajew als Interimspräsidenten eingesetzt.

Da rückten bereits Panzer in die Moskauer Innenstadt ein. Einer der beiden Söhne von Frau Leonene-Kopelew kam vom Flughafen Wnukowo schon nicht mehr ins Zentrum: Alle Schnellstraßen waren durch Militärfahrzeuge verstopft. Erst abends gelang es ihm, über Schleichwege durch die Dörfer nach Hause zurückzukehren. Gemeinsam ging die Familie dann zum Weißen Haus, dem damaligen russischen Parlament, das von Panzern umstellt war. "Ganz Moskau war auf den Beinen", berichtet die Bürgerrechtlerin. Vor dem Weißen Haus habe sie fast alle ihre Bekannten aus Dissidenten-Kreisen getroffen, darunter auch Kopelew. Die Ereignisse raubten jedem den Schlaf; bis zum Morgengrauen hörte die Familie den Radiosender "Moskauer Echo".

Am nächsten Tag versammelten sich rund 50 000 Demonstranten vor dem Weißen Haus. Die Männer bauten Barrikaden, um das Parlament gegen Panzerangriffe zu verteidigen; ihre Ehefrauen versorgten sie mit Lebensmitteln. An die ab 23 Uhr geltende Ausgangssperre hielt sich niemand. Leonene-Kopelew erzählt eine Episode, in der die Zivilcourage der Moskauer deutlich wird: Sie wollten kurz vor ein Uhr die letzte U-Bahn nehmen. Die fuhr wie gewohnt. Warum, fragte ihr Mann eine Angestellte, denn es sei befohlen, im Haus zu bleiben. Die Frau antwortete: "Zum Teufel mit diesem Befehl! Wir machen unsere Arbeit weiter!"

Auch am 21. August scharten sich wieder Tausende von Protestierern um das Parlament. Dort hörten sie plötzlich Schüsse am nahe gelegenen Gartenring. Vom Tod dreier Studenten, die von Panzern überrollt wurden, habe sie erst aus dem Radio erfahren, berichtet Leonene-Kopelew. Später sprach Boris Jelzin, seit zwei Monaten Präsident Russlands, auf dem Platz vor dem Weißen Haus. Seine Zuhörer antworteten ihm mit Sprechchören: "Jelzin, Jelzin! Russland, Russland!" Alle seien voller Hoffnung gewesen, so die Augenzeugin: "Wir haben gedacht, dass endlich die Demokratie auch in die Sowjetunion kommt. Es war eine Sternstunde der russischen Geschichte!" Am 22. wurde bekannt, dass Gorbatschow von seiner Datscha auf der Krim nach Moskau zurückgekehrt war. 100 000 Menschen feierten auf den Straßen das Scheitern des Putsches. Ihre damaligen Erwartungen hätten sich leider nicht erfüllt, bedauert die Bürgerrechtlerin: Die Gesellschaft müsse noch viele Kinderkrankheiten überwinden, denn Demokratie habe in Russland keine Tradition.

Oliver Heilwagen

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