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Reiner Haseloff (CDU, 63) ist seit 2011 Sachsen-Anhalts Ministerpräsident

© Kay Nietfeld/dpa

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident: "Wir haben zeitweise die Kontrolle über den Staat verloren"

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff über Vertrauen in die Politik, Perspektiven des Ostens und die Zukunft seiner CDU. Ein Interview.

Von Antje Sirleschtov

Herr Haseloff, bei der Bundestagswahl im September haben CDU und SPD historisch schlechte Ergebnisse eingefahren. Sind die Zeiten der großen Volksparteien vorüber?

Die Zeiten sind andere, in ganz Europa. Das Parteienspektrum verändert sich überall und wer glaubt, dass Deutschland davon verschont bleibt, der unterliegt einer Illusion. Wir alle müssen erkennen, dass sich das Bild Europas verändert hat und die Sicht der Menschen auf ihre Nationen und die Gemeinschaft ebenso. Es folgt jetzt eine stärkere Besinnung auf nationale Interessen. In allen Ländern stellt sich die Frage, welche Aufgaben in nationaler oder sogar regionaler Verantwortung behalten und welche zentral von Europa wahrgenommen werden sollen. Gerade die Auswirkungen der großen Migrationsbewegungen zeigen: Überall in Europa stellen sich die Menschen die Frage nach unserer gemeinsamen Identität und unseren kulturellen Wurzeln. Diese Verunsicherung zeigt sich in den Wahlergebnissen der jüngsten Zeit.

Warum gelingt es den großen Parteien nicht, überzeugende Antworten zu geben?

Was wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben, ist ein zeitweiliger Kontrollverlust. Über unsere Außengrenzen und unsere staatlichen Ordnungen. Und weil es keine einfachen Antworten auf die komplizierten Entwicklungen gibt, haben die Wähler Vertrauen in die etablierten Parteien verloren und populistische Strömungen, die suggerieren, dass man einfach nur an ein oder zwei Stellschrauben drehen müsste, um Ordnung herzustellen, erhielten Zulauf. Die Antwort darauf kann nur lauten, dass es einen solchen Kontrollverlust nicht erneut geben darf, dass wir deutlich machen, dass wir Herr des Verfahrens sind, und dass Recht und Ordnung und das Funktionieren demokratischer Strukturen gewährleistet sind. Dann werden uns die Menschen auch wieder vertrauen.

Welche Fehler hat die CDU gemacht, die zum Einbruch der Wahlergebnisse geführt haben?

Nun, nach wie vor vertrauen die Deutschen keiner Partei mehr als der Union, also der CDU und der CSU. Die Wahlergebnisse in diesem Jahr liegen auch keineswegs so weit entfernt von denen vergangener Wahlen, und die Menschen vermuten in allen Bereichen, die ihnen wichtig sind, die größte Kompetenz bei uns. Natürlich heißt das nicht, dass wir die Ergebnisse der Wahl nicht sorgfältig analysieren müssen. Das muss eine Partei immer. Und weil sich die Welt jeden Tag verändert, müssen sich auch CDU und CSU fragen, ob wir aktuell die richtigen Antworten auf die Zukunftsfragen der Menschen geben. Aber ich warne davor, jetzt das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir brauchen keinen Rechtsruck, wir brauchen die Durchsetzung des Rechtsstaates. Und wie das gelingen kann, darüber müssen wir sprechen.

Was schlagen Sie vor?

Es gilt sich kritisch anzusehen, welche Defizite in den Strukturen in Deutschland und in Europa dazu geführt haben, dass wir zeitweise die Kontrolle über unseren eigenen Staat verloren haben. Beispielsweise die Sicherung unserer europäischen Außengrenzen. Da gibt es große Defizite, die die Gemeinschaft beseitigen muss. Und so lange, bis das wieder funktioniert, muss Deutschland dafür sorgen, dass das eigene Territorium gesichert wird.

Sie sehen noch immer einen Kontrollverlust?

Grundsätzlich nicht. Allerdings gibt es noch immer einige zehntausend Menschen, die nach Deutschland gekommen sind und von denen wir weder wissen, wo sie sich aufhalten, noch, welche Pläne sie haben und wovon sie leben, oder ob sie das Land inzwischen verlassen haben. Das aufzuklären sind wir den Bürgern schuldig, die zu Recht verlangen können, dass der Staat sie keinem Sicherheitsrisiko aussetzt. Diese Aufgabe sehe ich zuerst bei den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern, die eng zusammenarbeiten müssen. Die Verantwortung jedoch hat der Bund, denn ihm obliegt laut Verfassung die Sicherung der Integrität von Staatsvolk und Staatsgebiet. Und wenn die Bundesregierung feststellt, dass diese Aufgabe im europäischen Maßstab nicht vollends erfüllt werden kann, dann muss sie dafür sorgen, dass sie wenigstens auf deutschem Boden erledigt wird.

Wie?

Darüber sprechen wir derzeit in den Sondierungen mit FDP und Grünen. Klar ist: Wir müssen sicherstellen, dass der Zutritt nach Deutschland in Zukunft nur denjenigen gestattet wird, deren Identität wir kennen und geprüft haben und die die Voraussetzungen für einen Zuzug erfüllen. Bund und Länder müssen dazu für Asylbewerber in zentralen Aufnahmeeinrichtungen sicherstellen, dass jeder, der die Voraussetzungen nicht erfüllt, diese Einrichtungen nicht verlässt, bis er in sein Heimatland zurückgebracht wird. Das erwarten nicht nur die Menschen, das erwarten auch die Kommunen. Denn nur so können sie sicherstellen, dass Menschen mit dauerhafter Bleibeperspektive hier auch integriert werden können. Jeder am Verhandlungstisch in Berlin, der den Anspruch hat, dass Integration in Zukunft gelingt, muss das erkennen.

Wie viele Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge leben in Sachsen-Anhalt und wie klappt ihre Integration?

Wir gehen davon aus, dass es rund 35.000 sind. Und unsere Erfahrung ist: Wer eine dauerhafte Bleibeperspektive hat, der ist meist auch motiviert, sich zu integrieren. Da aber die Verfahren lang und kompliziert sind, fehlt in sehr vielen Fällen der Anreiz, die Sprache zu lernen und sich hier zu integrieren. Wir haben in Sachsen-Anhalt mehrere tausend abgelehnte Asylbewerber, die eigentlich das Land verlassen müssten, die wir aber nicht abschieben können, und die natürlich auch nicht motiviert sind, sich zu integrieren. Ein Zustand, den wir auf Dauer nicht hinnehmen können. Deshalb dränge ich ja auch: Nur, wer ein Recht hat, hier dauerhaft zu leben, darf ins Land. Nur unter dieser Voraussetzung wird Migration in Deutschland Akzeptanz finden.

FDP und Grüne drängen in den Jamaika- Verhandlungen auf ein Einwanderungsgesetz, das Kriterien zur Zuwanderung in den Arbeitsmarkt festschreibt. Kann Sachsen-Anhalt damit sein Fachkräfteproblem lösen?

Ich warne davor zu glauben, dass das all unsere Probleme lösen wird. Zunächst müssen wir selbst Lösungen finden, um Fachkräfte auszubilden. Das erfordert massive Investitionen in Bildung. Außerdem muss ein solches Einwanderungsgesetz an ein stärkeres Engagement in der Entwicklungshilfe gekoppelt werden, sonst schaffen wir außerhalb von Europa Probleme, die zu noch größerer Armutszuwanderung führen. Niemand kann doch ernsthaft wollen, dass wir die gut ausgebildeten Eliten Afrikas zu uns einladen und die Entwicklung ihrer Heimatländer dadurch zusätzlich schwächen. Jedes Gesetz, das in Zukunft Arbeitsmigration nach Deutschland ermöglicht, muss daher zahlenmäßige Grenzen aufzeigen, und ich werde meine Zustimmung im Bundesrat davon abhängig machen.

Herr Haseloff, in Ostdeutschland wenden sich weit mehr Menschen als im Westen der AfD zu, die eine Politik der Abschottung propagiert. Ist die Wiedervereinigung misslungen?

Das ist sie nicht. Aber wir werden die Auswirkungen des totalitären DDR-Staates noch mindestens zwei weitere Generationen spüren. So lange wird man an jeder Statistik ablesen können, wo die alte DDR-Grenze verlief. Ob das die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist oder das Verhältnis von Alt und Jung oder der Zustand der Infrastruktur. Im Westen des Landes sollte also niemand glauben, dass mit dem Auslaufen des Solidarpaktes 2019 zur Normalität übergegangen werden kann. Ostdeutschland braucht die Aufmerksamkeit noch weit länger. Das betrifft Fördergelder für ostdeutsche Regionen genauso wie die Präsenz von ostdeutschen Eliten in gesamtdeutschen Führungsstrukturen und die konsequente Verlagerung von Forschungs- und öffentlichen Einrichtungen nach Ostdeutschland. Ich erwarte daher von der nächsten Bundesregierung, dass sie an zentraler Stelle, im Kanzleramt, personelle Strukturen schafft, die die Kompetenz haben, sich in jedem Politikfeld für ostdeutsche Interessen einzusetzen. Die Menschen in den neuen Ländern registrieren sehr genau, ob die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland ein Anspruch ist, der nur auf dem Papier steht, oder ob er auch mit Leben erfüllt wird. Und ich erkenne in den Wahlergebnissen, dass man dem Zusammenwachsen ganz Deutschlands wieder mehr Aufmerksamkeit schenken muss.

Wie viele Ostdeutsche sorgen dafür in den Jamaika-Verhandlungen?

Ich glaube: Vier von fünfzig. Plus Angela Merkel. Zu wenig also.

Und wie viele sind es im Präsidium der CDU?

Unter den Gewählten keiner. Nur Angela Merkel als Parteichefin. Das ist ein Bild, das sich übrigens durch alle Lebensbereiche zieht. Von der Politik, den Behörden über die Kirchen, die Verbände und die Wirtschaft. Und es hat einen Einfluss auf die Identität der Ostdeutschen im gemeinsamen Deutschland. Man kann und soll das nicht durch Quoten regeln. Aber ich erwarte mehr Sensibilität der Verantwortlichen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.

Auch in den westdeutschen Bundesländern gibt es Regionen mit großen Strukturproblemen. Verstehen sie deren Unmut darüber, dass sie 27 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer zur Solidarität mit dem Osten gemahnt werden?

Natürlich. Und ich sage ja deshalb auch nicht, dass Ostdeutschland mehr Geld benötigt. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Unterschied in den Lebensverhältnissen von Ost und West nur dann kleiner wird, wenn an den Ursachen gearbeitet wird. Von selbst geht das nicht, wird der Osten immer am Tropf des Westens hängen, werden die starken Länder ewig für die schwachen zahlen, wird dort das Geld für die Entwicklung fehlen. Deshalb muss sich die nächste Bundesregierung wieder intensiver um innenpolitische Themen kümmern. Ich meine damit die Verbesserung der Lebensverhältnisse in ländlichen Regionen, die Unterstützung für Kommunen, um Altersarmut, Ärztemangel, Pflegemangel. Überall im Land. Deutschland wird seine außenpolitischen Aufgaben auf Dauer nur erfolgreich stemmen können, wenn wir unsere Hausaufgaben im eigenen Land machen.

Herr Haseloff, Angela Merkel ist gerade dabei, ihre vierte Kanzlerschaft vorzubereiten. Ist es an der Zeit, dass sich die CDU auf eine Zeit nach Merkel einstellt?

Jeder gute Politiker in einem Spitzenamt hat immer auch im Blick, dass seine Politik fortgesetzt wird und für die Nachfolge gesorgt ist. Seien Sie gewiss: Auch Angela Merkel tut das. Ich gehe fest davon aus, dass die Führung der CDU und auch die nächste Bundesregierung jünger und weiblicher werden wird.

Soll sich Merkel in ein, zwei Jahren, vom Amt der CDU-Vorsitzenden zurückziehen und Raum für einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin machen?

Das halte ich für falsch. Die Kanzlerin muss in der stärksten Regierungspartei fest verankert sein. Und wir sollten nicht vergessen: Ohne sie wären wir als Union jetzt nicht in der Lage, eine neue Koalition zu bilden.

Seit zwei Wochen sondieren Union, FDP und Grüne nun, ob sie überhaupt eine Koalition bilden wollen. Bisher dringt vor allem Streit aus diesen Gesprächen. Finden Sie den Weg nach Jamaika noch?

Ich habe das Gefühl, dass sich alle am Tisch der besonderen staatspolitischen Verantwortung bewusst sind und die Bildung einer Jamaika-Koalition auch als Chance sehen. Ich denke, wir finden nicht nur den Weg, wir kommen auch ans Ziel.

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