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Politik: Sag mir, wo die Blumen sind

Von Caroline Fetscher

Seit in London die Terrorbomben hochgingen, erhält jeder Tote seinen Platz in den Nachrichten rings um die Welt. Es gab ein Massaker an Zivilisten, da nehmen alle Anteil. Jedes Menschenleben ist kostbar und jeder Gerettete ein Glück. Unser globales Potenzial an Empathie erscheint unerschöpflich. Blumen, Anrufe, Spenden, Trauer, Empörung, Mitgefühl, die ganze Ikonografie und Choreografie des Abscheus und der Solidarität gerät in Gang. Alles ist ethisch und politisch völlig richtig. Umso mehr aber müssten wir, der demokratische Westen, am zehnten Jahrestag von Srebrenica vor uns selbst erschrecken.

In dem Sommer, als wir in Berlin vor dem verhüllten Reichstag picknickten, ermordeten serbische Militärs und Paramilitärs zwei Flugstunden entfernt 8000 Jungen und Männer. Von globaler Solidarität war nichts zu sehen. Zu dem Zeitpunkt hatte der Krieg in Bosnien fast 250000 Tote gekostet. So viele, als hätte jeder Kriegsmonat seinen 11. September gesehen. Aber keine Massenproteste, kein Blumenmeer vor der bosnischen Botschaft.

Die Verbrechen in Srebrenica haben inzwischen vom Den Haager Tribunal ihre Namen erhalten: Genozid. Völkermord. Das Morden in Ostbosnien versprengte die Einwohner des Städtchens Srebrenica, dessen Name „Silbermine“ bedeutet, um die ganze Welt. Jedes Jahr am 11.Juli kehren viele zurück, um die identifizierten Toten aus den Leichenhallen von Tuzla zu bestatten. Morgen Mittag werden 610 Särge in die Erde gesenkt. In den Nachrichten werden wir kurz davon hören. In den Spätprogrammen laufen ein paar Reportagen. Seit Jahren warten Traumatisierte aus Srebrenica still auf ihr Bleiberecht bei uns, wo sie mehr Schutz vor den Erinnerungen haben.

1994, ein Jahr vor Srebrenica, begann der Völkermord in Ruanda, wie in Srebrenica vor den Augen der Welt und der Vereinten Nationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck des Holocaust gegründet wurden. Rafael Lemkin, ein polnischer Jude, der seine gesamte Familie durch die Shoah verloren hatte, kämpfte dann für die heute geltende Internationale Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords. Und doch hat vor zwei Jahren, in der Region Darfur in Sudan, der erste Genozid des 21. Jahrhunderts begonnen. Er passiert jetzt. Bisher starben 180000 Menschen, zwei Millionen wurden vertrieben.

Warum erhalten Terroristen ein so hohes Maß an Aufmerksamkeit, Völkermörder nicht? Auch darum, weil Terroristen Aufmerksamkeit wollen, Völkermörder nicht. Terroristen spekulieren auf die Öffentlichkeit. Sie wollen Schrecken maximieren. Völkermörder scheuen Blicke und Bilder. Die Mörder von Srebrenica, denen es um Macht, Geld und ein Großserbien ging, verscharrten Tausende und planierten den Boden mit Bulldozern. Zwei Monate später schafften sie die Leiche in weiter entfernte Massengräber. Sie wollten, dass die Welt vergisst.

Medien und Öffentlichkeit machen beide Spiele mit. Wir geben Terroristen, was sie wollen: unsere panische Aufmerksamkeit. Und wir geben Völkermördern, was sie wollen: unser lethargisches Ignorieren. Wann begreifen wir die Menschenrechte wirklich als universell? Wenn unser Druck auf die Politik nicht mehr von erratischen Emotionen geprägt ist. Morgen sollten wir fragen, ob uns die Menschenrechte tatsächlich interessieren, in deren Namen wir als Demokraten auf die Welt einwirken möchten. Und könnten.

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