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Eine geplante Unterkunft für Flüchtlinge in Remchingen in Baden-Württemberg. Vor kurzem wurde sie angezündet.

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Debatte über Einwanderung: Schutz für Flüchtlinge - Zuwachs für Deutschland

Warum tut sich Deutschland so schwer mit seinen Flüchtlingen? Während Bürger und Politiker über die Folgen der Migration diskutieren, gehen immer mehr Unterkünfte für Asylbewerber in Flammen auf. Was wir tun müssen, um der neuen Rolle als Einwanderungsland gerecht zu werden. Eine Analyse.

Von Caroline Fetscher

Abertausende sind es, für die eine Teenagerin stellvertretend ihre Stimme erhob. Die Macht und das Mädchen: Ein kleiner Dialog wurde in diesen Tagen emblematisch für das Thema Flucht und Bleiberecht. Da fragte die 14-jährige Tochter von Flüchtlingen eine Staatschefin nach ihrem Schicksal. "Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussieht, solange ich nicht weiß, ob ich bleiben kann", legte Reem Sahwil ihre Sorge dar.

Ob ein Flüchtling hier im Land bleiben kann oder nicht, das hängt nicht nur von Regeln und Gesetzen ab, sondern auch vom gesellschaftlichen Klima, von der Hetze, der Hitze, mit der debattiert wird. Seit Wochen und Monaten ist die Stimmung in Deutschland aufgeheizt gegen in der Ferne lebende Griechen wie gegen in der Nähe lebende Fremde, Flüchtlinge, die hier Asyl suchen, Schutz. An die nahezu tägliche Nachricht vom "Übergriff" auf ein Gebäude, das Asylbewerber beherbergt, hat sich die Öffentlichkeit schon gewöhnt. Übergriff: Das heißt Attacken auf Wehrlose, die Brandstiftung der Biedermänner. Feindseligkeit flammt, im Wortsinn, auf. Dabei sind die Deutschen doch so viel ziviler, zivilisierter geworden, seit damals – seit den brennenden Heimen und Wohnungen von Hoyerswerda, Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen. Sind sie?

Das Treffen von Merkel und dem Mädchen Reem bewegte das Land

In Rostock fand Mitte Juli der Bürgerdialog statt, bei dem Angela Merkel Reem Sahwil traf. Die Aula war geschmückt mit einem Transparent: "Gut leben in Deutschland. Was uns wichtig ist", stand da zu lesen. Reems Frage, der Wunsch, hoffen zu dürfen, war wie eine Anmerkung zu diesem verheißungsvollen Worten. Bedächtig und sachlich erwiderte Bundeskanzlerin Merkel. Die Fälle würden geprüft, "und dann sagt man Ja oder Nein". Aber manche im Land seien "in noch größerer Not" als eine Familie aus dem Libanon, wo es ja keinen Krieg gibt. Es könnten "nicht alle bleiben". Dem Mädchen stiegen Tränen in die Augen. Da ging die Mächtige auf sie zu, um spontan zu trösten.

Die Macht und das Mädchen: Der Dialog zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und der 14-jährigen Palästinenserin Reem wurde zum Symbol für das Thema Flucht und Bleiberecht in Deutschland.

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Mehr als zwei Jahrzehnte liegen zwischen den Brandanschlägen in Rostock-Lichtenhagen und den aktuellen Szenen aus Rostock. Damals, im August 1992, versammelten sich bis zu 3000 applaudierende Schaulustige, um Hunderten beim Steinewerfen zuzusehen. Die "Krawalle" dauerten vier Tage. Molotowcocktails flogen auf ein Wohnheim von Vietnamesen, das lichterloh brannte. Die Feuerwehr löschte unter Polizeischutz. Kein Bundeskanzler ließ sich an einem der Tatorte blicken, um Solidarität zu zeigen. Heute wird ein Flüchtlingsmädchen aus Rostock von Tausenden verteidigt, sogar gegen eine vermeintlich falsche Geste der Kanzlerin. Die Stimmung hat sich gewandelt. Es ist so, als würde eine ganze Epoche zwischen Rostock damals und heute liegen. Wirklich?

Brandstiftung ist Brandstiftung

Am 16. Juli, dem Tag, als Reem Sahwil und Angela Merkel sich begegnet sind, legten Unbekannte im oberbayerischen Reichertshofen Feuer an einen ehemaligen Gasthof, in den Asylbewerber einziehen sollten. Solche Aktionen geschehen jetzt klamm und heimlich, nachts im Dunkeln. Undenkbar, dass heute Tausende applaudieren und die Polizei tagelang nichts tut. Aber Brandstiftung ist Brandstiftung. Sie geschieht. Nicht undenkbar, dass Tausende gern applaudieren würden. Sie haben nur gelernt, ihre eigene Fassade zu wahren.

In der aktuellen Debatte wird mitunter der Eindruck erweckt: "Alle wollen sie zu uns!" Das hat mit der Realität wenig zu tun. Bis Juni dieses Jahres wurden in Deutschland an die 180.000 Asylanträge gestellt. In der Türkei leben inzwischen 1.650.000 Männer, Frauen und Kinder aus Syrien. Im Libanon, einem Land mit vier Millionen Einwohnern, sind es 1.200.000, die den Marodeuren des "Islamischen Staates" entkamen.

"German Angst" vor den kulturellen Folgen der Migration

Deutschland ist noch dabei, sich als Einwanderungsland überhaupt zu entdecken. Jahrelang haben die Soziologen Nancy Foner und Richard Alba die Politik von sechs Nationen in Bezug auf Einwanderer miteinander verglichen. Sie attestieren den Deutschen eine "German Angst" vor den kulturellen Folgen der Migration – in die USA kommen jährlich eine Million Zuwanderer, ohne dass es eine annähernd ähnliche Panik oder Hetze gäbe. Aber die "German Angst" ist da und muss adressiert werden, um ihre populistischen Blüten ("Alternative für Deutschland", "Pegida") zu verhindern. Anfang dieser Woche etwa entwarf die CSU in Sankt Quirin am Tegernsee ein "Maßnahmenpaket" gegen den "Asylzustrom". Dazu zählt die Idee, "Zeltstädte" für Asylbewerber zu errichten, um "keinen zusätzlichen Anreiz zu schaffen", da ohnehin keine "Bleibeperspektive" gegeben sei. Der Heilige Quirin vom Tegernsee, an die Legende könnten die Unionschristen denken, soll mit seiner Mutter als Siebenjähriger vor der Christenverfolgung geflüchtet und im Jahr 269 als Märtyrer in Rom enthauptet worden sein.

Einzig geeignet zur ersten Aufnahme von Flüchtlingen scheinen Ballungsräume und Großstädte zu sein.

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Menschen migrieren. Vor Krieg, Not und Konflikt flüchten sie, seit Gesellschaften existieren. Und genauso alt wie der Begriff des Fremden ist der der Gastfreundschaft, des Asyls. König Theseus empfängt im Drama von Sophokles den Schutz suchenden Flüchtling Ödipus mit den Worten: "Ich weiß, ich selber wuchs heran in fremdem Land, wie du (…). Drum werd’ ich keinem Fremden, der wie du mir naht, mit treuer Hilfe mich entzieh’n."

So scheint in der Antike eine Idee des Menschenrechts auf, die erst Mitte des 20. Jahrhunderts nach zwei barbarischen Weltkriegen eine Form bekam. Da entstand mit den UN die universelle Charta der Menschenrechte. Im Dezember 1950 rief die UN ihr Hohes Flüchtlingskommissariat ins Leben, das UNHCR. Ein kleines Büro, auf drei Jahre Arbeit angelegt, in ein paar Räumen im Genfer Palast der Nationen. Rings um den Globus waren Millionen von Flüchtlingen versprengt. Ihr kostbarstes Gepäckstück war unsichtbar, und es hieß Hoffnung. Der UNHCR sollte die Hilfen für sie koordinieren, eine Interimsphase sollte überbrückt werden, bis zum baldigen Ende einer globalen Flüchtlingskrise.

2015 waren mehr Menschen auf der Flucht als seit 1945

Vietnamkrieg, Koreakrieg, Algerienkrieg, Nahostkriege – die Geschichte hat andere Kapitel geschrieben. Wir Zeitgenossen leben heute als Protagonisten mitten im jüngsten Kapitel – in Ländern, die Flüchtlinge aufnehmen, oder in Ländern, aus denen Leute fliehen. Nirgends mehr lässt sich das leugnen. Auch in Deutschland nicht. Die globalen Krisenherde existieren weiter, es gibt scheiternde Staaten, hybride und asymmetrische Kriege. 2015 waren mehr Kinder, Frauen und Männer auf der Flucht als seit 1945, an die 60 Millionen Menschen.

Zweifellos wird in Deutschland bis Dezember 2015 die seit zwanzig Jahren höchste Zahl an Asylanträgen eingegangen sein. Die Herausforderung ist da, Kanzlerin und Kabinett suchen nach Lösungen, in Berlin wie Brüssel. Doch sie tun das kaum je beherzt, kaum couragiert, eher unwillig. So spiegeln Politiker den Fremdenfeinden ihre Ressentiments, statt in der Praxis an die enormen Änderungen zu gehen, die rasch geschehen müssten.

Das Dublin-Abkommen ist untauglich für Europa

Untauglich für Gesamteuropa ist das Dubliner Übereinkommen, wonach jemand Asyl nur in dem Staat suchen darf, wo er angelandet ist – es benachteiligt auf unfaire Weise die Mittelmeeranrainer Italien und Griechenland. Untauglich der unhaltbare Personalmangel in den Behörden, untauglich der Mangel an Schulung der Mitarbeiter. So müssten sie etwa Aufklärung darüber erhalten, was Traumatisierungen sind, um schwer Beschädigten nicht noch weiter zu schaden und ihre eigene, schwere Arbeit besser zu bewältigen.

Niemandem zu vermitteln, weder Neuankömmlingen noch Alteingesessenen, ist das Unterbringen von Asylbewohnern in kleinen Orten. Sprachkurse, Betreuung, Gesundheitsversorgung: Noch das netteste Dreihundert-Seelen-Dorf ist mit all dem überfordert. Einzig geeignet zur ersten Aufnahme sind Ballungsräume und Großstädte.

Kontraproduktiv sind die Regelungen für die "Duldung" derer, die auf Asylbescheide warten, sie leben konstant in Furcht, dürfen nicht arbeiten, keine Ausbildung beginnen, kein Konto eröffnen, den Wohnort nicht verlassen. Von September 2015 an, immerhin, dürfen Flüchtlingskinder, die wie das Mädchen Reem mehr als vier Jahre hier sind und zur Schule gehen, einen Antrag auf dauerhaftes Bleiberecht stellen. Dennoch, die Hürden sind horrend, so hoch wie fast nirgends sonst. Noch dazu in einem Land, von dem die Demografen erklären, dass seine schrumpfende einheimische Bevölkerung mit ihren alternden Babyboomern den Zuwachs von außen dringend braucht.

Ethisch gibt es ohnehin keine Wahl

Deutschland, das sich nach der Barbarei, nach 1945, mithilfe der Alliierten und ihres Marshallplans, mithilfe der politischen Energie der überlebenden Demokraten zu einem der zivilisiertesten Rechtsstaaten der Welt entwickeln durfte, hat die allerbesten Gründe, sich damit anzufreunden, dass Zuwanderer kommen und bleiben, um dazuzugehören. Hunderttausende von Mädchen wie Reem Sahwil? Hunderttausende solcher Jungen? Genau. Sie brauchen Schutz und Deutschland braucht Zuwachs. Und ethisch gibt es ohnehin keine Wahl.

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