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Politik: Schwarze und Schwarz-Gelbe - Was die Wähler in Kiel mit den Fans von Borussia Dortmund verbindet (Kommentar)

Vorgestern ist im Westfalenstadion etwas Unwahrscheinliches passiert. Borussia Dortmund hatte gegen 1860 München mühsam ein Unentschieden gerettet.

Vorgestern ist im Westfalenstadion etwas Unwahrscheinliches passiert. Borussia Dortmund hatte gegen 1860 München mühsam ein Unentschieden gerettet. Und die Fans, die die Spieler vorher wochenlang wütend beschimpft hatten, waren versöhnt. Obwohl die "Scheißmillionäre" auf dem Platz wieder nicht gewonnen hatten.

Die Wut der treuen schwarz-gelben Fans auf die Mannschaft war ein Zeichen für die Auflösung der sozialen Milieus und gesellschaftlichen Bindungen, die auch am Fußballgeschäft nicht vorbei geht. Früher waren die Vereine Clubs, heute sind sie Wirtschaftsunternehmen. Wo früher Traditionen galten, regiert heute der Markt. Nach dem Marktgesetz gilt der Sieger alles, der Verlierer nichts. So werden aus Fans Konsumenten. Und doch haben die Borussen-Fans das matte Spiel gegen München 60 bejubelt als wäre alles, alles wieder gut.

Auch in Schleswig-Holstein ist vorgestern etwas Unwahrscheinliches passiert. Das Volk hat, eher unbeeindruckt von den Skandalen der letzten Zeit, die üblichen Parteien gewählt. Die CDU ist nicht unter 30 Prozent gerutscht, obwohl die Aufklärung der CDU-Finanzskandale zu wünschen übrig lässt. Im Parlament sitzen keine Rechtsradikalen, die SPD hat nicht die absolute Mehrheit bekommen. Vor allem ist das Volk nicht, wie alle erwartet hatten, politikverdrossen und skandalmüde zu Hause geblieben, sondern zur Wahl gegangen.

Das ist erstaunlich, weil für Wähler eigentlich das Gleiche gilt wie für Fußballfans: Sie wechseln ihre Sympathien und Antipathien viel rascher als früher. Weil ihre Bindungen an die Parteien lockerer geworden sind, reagieren sie heftiger auf aktuelle Formschwächen. So werden aus (Stamm)Wählern Konsumenten, die je nach Marktlage entscheiden. Die proletarischen Milieus zerfallen, die Kirchen verlieren an Bedeutung. Und das universelle Kleinbürgertum, das übrig bleibt, kann heute SPD, morgen CDU und übermorgen Grüne wählen. Oder sogar heute BVB-Fan sein und morgen schon nicht mehr.

Deshalb verlor die SPD nach ihrem Sieg 1998 so drastisch jede Wahl, deshalb gewann die CDU nach ihrer Niederlage 1998 so eindeutig jede Wahl. Deshalb hätte nun eigentlich auch in Kiel die CDU ganz viel verlieren und die SPD ganz viel gewinnen müssen. Hat sie aber nicht. Die Lockerung des gesellschaftlichen Beziehungsgeflechts mag unaufhaltsam sein - allerdings kann dieser Prozess, wie in Dortmund und Kiel zu sehen war, sehr unterschiedliche Effekte haben. Er wird nicht einfach immer stärker, sondern bewegt sich mal nach vorne, mal wieder zurück. Wenn es wirklich ernst wird, wenn also der BVB in diesem Jahr noch kein Spiel gewonnen hat oder der CDU existenzielle Gefahren drohen, dann werden Fan und Wähler wieder ganz traditionell - Individualisierung hin, Milieu-Zerfall her.

Stefan Reinecke

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