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Indische Demonstranten zerstören ein Polizeiauto in Neu-Delhi.

© AFP

Update

Schwere Ausschreitungen: Gewalt gegen Frauen in Indien ist beispiellos

Nach der bestialischen Gewalttat an einer jungen Studentin erlebt das Land eine beispiellose Protestwelle und schwere Unruhen, die an den arabischen Frühling erinnern. Die Polizei antwortet mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern.

Sie trotzen dem Tränengas. Sie trotzen den Wasserwerfern. Und sie trotzen den Schlagstöcken der Polizei. "Wir wollen Gerechtigkeit", "Hängt die Vergewaltiger" und "Genug ist genug", schreien sie, bis sie heiser sind. Eine Woche nach der bestialischen Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Frau haben tausende Menschen, die meisten junge Studentinnen und Studenten, am Wochenende in Indien ihrer Wut über die wachsende Gewalt gegen Frauen Luft gemacht – und das direkt vor der Haustür der Mächtigen, Delhis Regierungsviertel Raisina Hill.

TV-Sender sprachen von einer "beispiellosen" Protestwelle, Analysten fühlten sich an Anfänge des Aufstandes am Tahrir-Platz erinnert. Am Montag hat Regierungschef Manmohan Singh zur Ruhe aufgerufen. Es gebe im Land „aufrichtige und berechtigte Wut und Angst wegen dieses grässlichen Vorfalls“, sagte Singh am Montag in einer Fernsehansprache. Er mahne aber „Frieden und Ruhe“ an. "Als Vater dreier Töchter habe ich die gleichen Gefühle wie Sie“, sagte Singh. „Ich versichere, dass wir alle möglichen Anstrengungen unternehmen werden, um für die Sicherheit aller Frauen im Land zu sorgen.“ Zu den Ausschreitungen bei den Demonstrationen sagte er, Gewalt führe nicht weiter. Die Stimmung, die am Samstag bis zum harten Vorgehen der Polizei weitgehend friedlich war, wurde am Sonntag aufgeheizter. Rowdies zündeten Barrikaden und Autos an und versuchten, die Absperrungen vor dem Präsidentenpalast zu stürmen. Es kam zu Straßenschlachten mit der Polizei. Die meisten Demonstranten blieben friedlich.

Die Polizei setzte erneut Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer ein. Es gab zahlreiche Verletzte. Im Nordosten Indiens wurde ein TV-Journalist erschossen, als die Polizei das Feuer auf die Demonstranten eröffnete. Auch in Mumbai, Kalkutta, Chennai und anderen Städten zogen Menschen auf die Straße. Sie fordern mehr Schutz für Frauen, schnellere Verfahren und härtere Strafen bis zum Tod für Vergewaltiger - so gehen bisher drei von vier Tätern straffrei aus.

Aus Angst, dass die Proteste außer Kontrolle geraten, hatte Delhi am Sonntag ein Demonstrationsverbot für das Regierungsviertel verhängt und alle Metrostationen in der Nähe geschlossen. Dennoch versammelten sich Tausende am India Gate und am Jantar Mantar im Zentrum Delhis. Viele mussten zuvor kilometerweit laufen.

Die "aggressive Antwort" (The Hindu) der Polizei auf die Proteste empörte viele Bürger. "Ich bin stolz auf diese demonstrierenden Jugendlichen, sagte eine 53-järige Mutter. "Und ich bin stolz, hier zu sein." Auch Bollywood-Schauspieler stellten sich auf die Seite der Demonstranten: "Danke an diese Jugend", twitterte Schauspieler Anupam Kher. Sein Kollege Kabir Bedi verurteilte das Versammlungsverbot der Regierung in Delhi als undemokratisch. 

Die Regierung wirkte hilflos. Um die Menge zu besänftigen, deutete Innenminister Sushil Kumar Shinde an, dass die sechs Täter gehängt werden. Die Regierung erwäge die Todesstrafe für solche "raren" Fälle. Die Chefin der regierenden Kongresspartei, Sonia Gandhi, versprach den Demonstranten: "Wir werden etwas tun." Doch viele Menschen sahen dies als bloße Lippenbekenntnisse.

Ausgelöst wurde die Welle der Wut durch die Gewalttat an einer 23-jährigen Medizinstudentin, die derart bestialisch war, dass sie selbst das Gewalt gewohnte Indien bis ins Mark erschütterte. Die junge Frau war Sonntag vor einer Woche in einem fahrenden Bus in Delhi zunächst von sechs Männern vergewaltigt und dann brutal mit Eisenstangen gefoltert worden, bis ihr Darm zerfetzt war. Ärzte haben sie inzwischen fünfmal notoperiert, ihr gesamter Darm musste entfernt werden.

Die behandelnden Ärzte sagen, sie hätten noch nie einen so grauenhaften Fall gesehen. Das Mädchen kämpft weiter um ihr Leben. Selbst wenn sie überlebt, wird sie für immer medizinische Betreuung brauchen. Ihre Eltern, arme Leute, hatten ihren einzigen Besitz, ein Stück Land, verkauft, damit sie studieren kann.

Die unfassbare Gewalttat ist nur die Spitze eines Eisbergs. Die Gewalt gegen Frauen in Indien hat ein solches Ausmaß, dass die prominente Autorin Shobhaa De von einem "nationalen Notstand" spricht. Eine Demonstrantin sagte: "Der Fall in Delhi ist ein Symbol für das, was Frauen jeden Tag in diesem Land erleiden."

In Indien wird alle 20 Minuten eine Frau vergewaltigt

Laut offiziellen Statistiken wird in Indien alle 20 Minuten eine Frau vergewaltigt. Vor allem die Hauptstadt Delhi gilt als "Vergewaltigungshauptstadt": Dort kommt es alle 18 Stunden zu einem Übergriff. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, weil sich viele Frauen aus Angst, sozial geächtet zu werden, nicht zur Polizei trauen. Millionen Frauen lebten in permanenter Angst, schreibt die Times of India.

Der Zorn der Demonstranten richtet sich vor allem gegen Regierung und Polizei, denen sie Untätigkeit vorwerfen. So ist ein großer Teil der Polizisten in Delhi zum Schutz von Politikern abgestellt. "Die Anti-Vergewaltigungs-Proteste in Delhi zielen in Wahrheit auf eine politische Klasse, die selbst Bodyguard-Schutz genießt, sich aber wenig um die Sicherheit der Bürger schert", meint der Analyst Brahma Chellaney.

Wie sehr die Politik Gewalt gegen Frauen als Kavaliersdelikt sieht, zeigt sich daran, dass fast alle Parteien Politiker in ihren Reihen haben, gegen die wegen sexueller Delikte ermittelt wird.  "Eine Gesellschaft, die wegschaut, wenn Politiker vergewaltigen, rauben, kidnappen und töten, lädt Ärger ein", meint Shobdaa De. 

Doch das Gewaltproblem lässt sich nicht allein mit härteren Strafen, mehr Polizei und schnelleren Verfahren lösen. In weiten Schichten der Gesellschaft Indiens ist der Mann alles und die Frau nichts. Jedes Jahr werden hunderttausende Föten abgetrieben, nur weil sie weiblich sind. Bei Heiraten müssen die Eltern der Braut Mitgift an den Bräutigam zahlen, um die "Wertlosigkeit" des Mädchen aufzuwiegen.

Übergriffe sind Alltag. Doch wenn Frauen auf offener Straße, in Bussen und Bahnen begrabscht und angepöbelt werden, wird dies als Eve-Teasing, als "Eva ärgern", verharmlost. In alten Bollywood-Filmen sind Vergewaltigungen oft Teil der Handlung, aber ein Kuss, also eine zärtliche Geste, gilt bis heute als Skandal. "Vergewaltigungen geschehen, weil Indiens Männer Frauen nicht respektieren und sie als Spielobjekte sehen", schreibt der bekannte Kolumnist Karan Thapar. 

In Ranchi im Bundesstaat Jharkhand reagierten Menschen nun selbst mit Gewalt: Dort steinigten 100 wütende Dorfbewohner, die meisten Frauen, fünf Männer, die Mädchen beleidigt hatten, zu Tode. Unter den Toten war ein Jugendlicher, der bereits wegen Vergewaltigung verurteilt, aber auf Bewährung freigelassen worden war. 30 Dorfbewohner stellten sich danach freiwillig der Polizei und übernahmen die Verantwortung dafür, dass die fünf Männer getötet wurden. (mit AFP)

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