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Politik: Sich selbst entfremdet

Von Tissy Bruns

Von Tissy Bruns

Wenn jemand an Tabus rührt, dann löst er grundsätzlich Abwehr aus – das liegt in der Natur von Verdrängung und Tabu. Geht es um gesellschaftliche Zustände, hat die Abwehr immer das gleiche Gesicht: Das Wort des TabuBrechers wird als pauschale Kritik verstanden und als solche zurückgewiesen.

Dieser Mechanismus hat eine vernünftige Seite. Denn verdrängte Leiden kann man mit Erfolg nur heilen, wenn man behutsam ist. Darum ist wichtig, dass Jörg Schönbohms Äußerung einen Widerspruch erfährt, der deutlich macht, dass hier nicht der eine Teil der Gesellschaft – der westliche, dem es besser geht – von hoher Warte über den anderen urteilt, den östlichen. Wenn die Zurückweisung von falschen Pauschalisierungen aber hilft oder absichtsvoll bemüht wird, um weiter zu verdrängen, dann muss der Tabu-Brecher verteidigt werden.

Der brandenburgische Innenminister soll hier verteidigt werden: für seinen Mut, den Finger in die Wunde zu legen. Die Verkürzung, die seine Bemerkung über „die von der SED erzwungene Proletarisierung“ in der Öffentlichkeit erfahren hat, kann man dabei schnell abhandeln. Niemand kann ein Verbrechen wie den neunfachen Kindermord in Brandenburg mit den gesellschaftlichen Verhältnissen erklären; Schönbohm hat es nicht getan.

Aber Zilles Wort stimmt immer noch, dass man Menschen auch mit einer Wohnung umbringen kann. Und das 20. Jahrhundert hat die Lehre hinterlassen, welche Verheerungen Diktaturen in den menschlichen Seelen anrichten. Es ist eine offene Wunde Deutschlands, dass in den östlichen Bundesländern die Zahl besonders roher Verbrechen erschreckend hoch ist. Wenn sich DAS ändern soll, muss über die Gründe dafür geredet werden, übrigens auch deshalb, weil die westlichen Länder ja keineswegs dagegen gefeit sind. Dass man im Osten wie im Westen wegsieht von den verwahrlosenden Milieus, und glaubt, sich mit Sozialtransfers von der Verantwortung freikaufen zu können, ist eine gesamtdeutsche Wahrheit.

Schönbohm hat aber an eine ostdeutsche Besonderheit gerührt, nämlich den Anteil der SED-Diktatur an dieser Entwicklung. Es wäre eine besonders hochmütige Art der pädagogischen Behandlung der Ostdeutschen, ja, der Verlogenheit, wenn darüber geschwiegen würde. Denn die Westdeutschen wissen doch sehr gut, wie sehr für die Hinterlassenschaft von Diktaturen das biblische Wort gilt, dass es sich rächt bis ins dritte Glied. Kinder und Kindeskinder der Opfer und Täter des NS-Regimes tragen an Seelenschäden. Die Vorstellung ist geradezu grotesk, dass die Spuren einer Diktatur, die zwei Generationen länger gedauert hat, schneller verschwinden könnten.

Schönbohm hat mit einem falschen Begriff, dem von der „erzwungenen Proletarisierung“, ein ernstes, wichtiges Thema getroffen. In der DDR wurde nicht nur das Bürgertum enteignet oder vertrieben. Die SED hat auch die Arbeiterschaft, das Proletariat, erniedrigt und um die Emanzipation und politische Partizipation betrogen, die es sich in Westdeutschland erkämpfen konnte. Aber die Erklärung für „Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft“ (Schönbohm) muss auch in der zurückliegenden Diktatur gesucht werden. Dass die Entwicklung nach 1989 wiederum ihren eigenen Anteil daran hat, wird dadurch ja nicht falsch.

Nicht die erzwungene Proletarisierung, wohl aber die erzwungene Vergesellschaftung der Individuen ist das schwere Erbe der Ostdeutschen. Viele Menschen in der DDR haben es geschafft, sich vor dem Entzug der Verantwortung für das eigene und das Leben der Kinder zu schützen. Einige mit Hilfe der Kirchen, viele durch die kleine Subversion in den Nischen, wenige durch offenen Widerstand. Schäden hat es bei allen Ostdeutschen angerichtet. Schönbohm hat uns darauf gestoßen, dass das ganze Land noch an den Folgen trägt. Befremdlich, dass weder eine ostdeutsche Kanzlerkandidatin noch ein Kanzler, der von unten kommt, zur Sache selbst ein Wort zu sagen hat.

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