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Kritik aus Straßburg. In Sachen nachträglicher Sicherungsverwahrung ist Deutschland erneut verurteilt worden.Foto: Michael Urban/ddp/dapd

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Sicherheitsverwahrung: Zu Unrecht weggesperrt

Der europäische Gerichtshof verurteilt Deutschland erneut in Sachen nachträglicher Sicherungsverwahrung. Deutsche Gerichte hätten die Unterbringung eines Strafgefangenen zu Präventionszwecken nicht nachträglich anordnen dürfen.

Berlin - Der mehrfach verurteilte Sexualstraftäter Albert H., Jahrgang 1934, wird dauerhaft im psychiatrischen Krankenhaus in Bayreuth bleiben. Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Donnerstag zu seinen Gunsten urteilte. Denn weil sich H.s Gesundheitszustand ständig verschlechterte, kann er nicht mit einer Entlassung aus der Psychiatrie rechnen. Doch dass der 76-jährige Kläger nach Verbüßung einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe in Sicherungsverwahrung genommen wurde, weil er als hochgradig rückfallgefährdet galt, bleibt aus Sicht des Straßburger Gerichts unrechtmäßig: Die fortgesetzte deutsche Praxis, verurteilte Gewalt- und Sexualstraftäter mit dem Instrument der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung in Haft zu behalten, sei eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Deutsche Gerichte hätten die Unterbringung eines Strafgefangenen zu Präventionszwecken nicht nachträglich anordnen dürfen, erklärten die Richter. In drei weiteren Fällen stellten die sieben Richterinnen und Richter ebenfalls eine Verletzung der Menschenrechtskonvention durch die Sicherungsverwahrung fest: Die verurteilten Täter wurden über die zur Tatzeit zulässige Höchstdauer von damals zehn Jahren hinaus in Sicherungsverwahrung gehalten, einer von ihnen wurde inzwischen nach einem Gerichtsbeschluss freigelassen. Ihnen sprach das Gericht eine Entschädigung von 25 000, 30 000 und 70 000 Euro zu. Zahlen muss Deutschland. Jetzt müssen im Fall der beiden noch immer in Sicherungsverwahrung gehaltenen Männer deutsche Gerichte wohl erneut befinden.

Das Urteil ist die zweite Ohrfeige für Deutschland in Sachen Menschenrechte innerhalb von nur gut einem Jahr. Bereits im Dezember 2009 hatte der EGMR die deutsche Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung gerügt. In seinem Urteil von 2009 hatte das Gericht erklärt, dass eine Sicherungsverwahrung, die per Gesetz zunächst auf maximal zehn Jahre beschränkt war, nicht rückwirkend verlängert werden darf. Daraufhin waren einige Sicherungsverwahrte freigekommen – bis zu 80 jedoch nicht. Vor dem Hintergrund der Straßburger Entscheidung von 2009 könnten in Berlin demnächst drei ehemalige Sexualstraftäter nach Jahren aus der Sicherungsverwahrung freikommen. Das Berliner Landgericht veröffentlichte am Donnerstag eine Entscheidung, der zufolge in den Fällen eines 58-Jährigen und eines 66-Jährigen die weitere Vollstreckung der Unterbringung für erledigt erklärt wurde. Die Fristen laufen in den kommenden Wochen ab. Im dritten Fall eines 50-Jährigen wurde die weitere Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu Anfang März zur Bewährung ausgesetzt. Laut Gericht wurde in den drei Fällen eine sogenannte Führungsaufsicht mit einer Vielzahl von Weisungen angeordnet.

Seit Anfang dieses Jahres ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung in Deutschland gesetzlich abgeschafft. Darauf hatte sich die Koalition nach einem zähen Ringen zwischen Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger (FDP) geeinigt. Eine Reform war zwar schon im Koalitionsvertrag vereinbart. Aber nicht zuletzt als Reaktion auf Ängste vor Sexualverbrechern in der Bevölkerung und eine lang anhaltende öffentliche Diskussion hat die Bundesregierung auch in die neue Gesetzesfassung ein Hintertürchen eingebaut. Für alle bereits verurteilten Gewalttäter solle es nach der Haft weiter die Möglichkeit einer „sicheren Unterbringung“ geben, hatten CDU und Innenminister de Maizière zügig versprochen. Die Altfälle, die nach den beiden EGMR-Urteilen eigentlich freizulassen wären, können weiter in Sicherungsverwahrung untergebracht werden, wenn ihnen eine schwere psychische Störung attestiert wird. Für künftige Fälle sieht die neue Gesetzeslage die erweiterte Möglichkeit einer „vorbehaltlichen“ Sicherungsverwahrung schon im Urteil vor. Aus der Sicherungsverwahrung kommt nur frei, wer eine positive Prognose nachweist. 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am Donnerstag über Einzelfälle entschieden. Allerdings ist er ausdrücklich seinem Spruch vom Dezember 2009 gefolgt.

Dass die Debatte um die eigentlich noch freizulassenden Straftäter auch mit dem schwarz-gelben Kompromiss vom Beginn dieses Jahres noch nicht zu Ende ist, belegen die Reaktionen auf das Straßburger Urteil. Grüne und Linke forderten die Bundesregierung auf, eine Rechtspraxis zu ermöglichen, die der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht. Der rechtspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Jerzy Montag, sprach sich für eine Reform der Reform aus.

Die Justizministerin hingegen verteidigte nach dem Straßburger Urteil „die größte Neuordnung der Sicherungsverwahrung seit 1970“. Damit gehöre „Wegsperren ohne rechtsstaatliche Grundsätze“ der Vergangenheit an. „Für die Zukunft ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung weitgehend abgeschafft“, sagte Leutheusser-Schnarrenberger. Es sei „Sache der deutschen Gerichte“, die Konsequenzen aus dem EGMR-Urteil „in jedem Einzelfall zu ziehen“.

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