zum Hauptinhalt

Sicherungsverwahrung: Der Preis der Unfreiheit

Vier Straftäter, die nachträglich in Sicherungsverwahrung genommen worden waren, erhalten Entschädigung wegen zu langer Haftdauer. Welche Bedeutung hat das Urteil?

Für immer weggesperrt werden sollten sie, nun sind die als gefährlich eingestuften Sexual- und Gewalttäter in Freiheit. Nicht nur das, sie wollen auch noch Geld vom Staat. Und sie werden es wohl bekommen, früher oder später. Vier ehemalige Sicherungsverwahrte haben sich am Dienstag vor dem Landgericht Karlsruhe Entschädigungen von 65000, 49000, 53000 und 73000 Euro erstritten, weil das Land Baden-Württemberg ihnen zu Unrecht die Freiheit entzogen hatte. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, aber spätestens wenn der Bundesgerichtshof es bestätigt, steht fest: Bis zu 100 Ex-Verwahrte, die aufgrund einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entlassen werden mussten, könnten entschädigt werden.

Das mag manchen entsetzen, aber das Landgerichtsurteil war erwartet worden. Erstaunlich war nur, dass es so lange dauerte, bis sich Betroffene zu einer Klage entschlossen hatten. Nun hat der Streit den Charakter eines Pilotverfahrens. Auch in anderen Bundesländern können Ex-Sicherungsverwahrte klagen. Es sind nicht die letzten juristischen Aufräumarbeiten, nachdem verschiedene Bundesregierungen mit einer verfehlten Kriminalpolitik vor die Wand gefahren sind. Erst vor ein paar Wochen hat das Kabinett eine umfassende Vollzugsreform beschlossen. Sicherungsverwahrung galt – und gilt – als Allheilmittel für eine von Verbrechensängsten geplagte Bevölkerung. Sie ist keine Strafhaft, weil potenziell rückfallgefährdete Täter dort erst untergebracht werden können, wenn sie ihre Strafe verbüßt, ihre Schuld also abgesessen haben. Juristisch gilt sie deshalb als „Maßregel“, die nur angeordnet wird, wenn ein Täter infolge eines „Hanges zu erheblichen Straftaten“ für die Allgemeinheit gefährlich ist, wie es im Gesetz heißt. So ist die Sicherungsverwahrung die Ultima Ratio eines Rechtsstaats im Umgang mit Verbrechern, die nicht resozialisiert werden können oder es nicht wollen und die immer wieder neue Taten begehen.

Seit den achtziger Jahren hat sich die Zahl der Sicherungsverwahrten mehr als verdoppelt.

In den achtziger Jahren saßen nur rund 200 Menschen in Sicherungsverwahrung. Sie wurde in den Haftanstalten vollstreckt und unterschied sich kaum vom herkömmlichen Vollzug. Mittlerweile sind es 466. Ein Grund dafür ist neben vielen Verschärfungen unter Kanzler Gerhard Schröder der Wegfall der Höchstgrenze 1998, der nun auch den eigentlichen Anlass für die Klagen gegeben hat. Unter dem Eindruck spektakulärer Verbrechen hatte die damalige schwarz- gelbe Bundesregierung die Maximaldauer von zehn Jahren gestrichen. Für die vier Kläger aus einer Freiburger Haftanstalt war damit ein spätester fester Entlassungstermin geplatzt. Sie blieben über die ehemalige Zehnjahresgrenze noch zwischen acht und zwölf Jahren länger im Knast.

Keine Strafe ohne entsprechendes Gesetz, lautet ein rechtsstaatliches Gebot. Rückwirkende Strafen sind damit verboten. Allerdings sah das Bundesverfassungsgericht im Wegfall der Höchstgrenze keinen Widerspruch. Das sei ja keine Strafe, sondern eben eine „Maßregel“. Erst der EGMR stellte die Argumentation wieder vom Kopf auf die Füße. Ob Verwahrung oder Strafhaft, das sei für Gefangene ein und dasselbe. Im Mai 2011 haben sich die Verfassungsrichter dieser Sichtweise angeschlossen und eine Zweijahresfrist für Reformen gesetzt. Welche Betroffene nun tatsächlich eine Entschädigung fordern oder erhalten können, ist offen. Es zählt der Einzelfall.

Eingesperrt bleibt zudem, wer hochgefährlich und psychisch gestört ist. Für diese Fälle hatte der Bund in Reaktion auf das EGMR-Urteil 2011 extra ein neues Gesetz geschaffen. Das Karlsruher Urteil könnte neue Unruhe im Dorf Insel bei Stendal auslösen. Das befürchtet das Justizministerium Sachsen-Anhalt. Zwei der Kläger leben seit Juli 2011 in der 400-Einwohner-Gemeinde. Seitdem Identität und Vergangenheit der 64 und 55 Jahre alten früheren Sexualstraftäter im Ort bekannt sind, kam es immer wieder zu Demonstrationen, bei denen der Wegzug der Männer gefordert wurde. „Es wird schwierig sein, den ohnehin aufgebrachten Menschen zu erklären, warum die beiden Männer nun auch noch eine große Summe Geld bekommen sollen“, sagte Ministeriumssprecherin Ute Albersmann. Die Männer leben von Sozialleistungen, auf die eine Entschädigung angerechnet würde. Der Ältere leidet an Krebs und will Insel nicht verlassen. Für den anderen Mann sucht der soziale Dienst der Justiz seit Monaten erfolglos einen neuen Wohnort.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false