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Politik: Solidarnosc: Der Angler und sein Köder

Zum Angeln verabreden sie sich noch regelmäßig. Dann stehen sie stundenlang schweigend am Ufer, werfen immer wieder ihre Leinen aus und beobachten die Schwimmer, unter denen die Köder hängen.

Zum Angeln verabreden sie sich noch regelmäßig. Dann stehen sie stundenlang schweigend am Ufer, werfen immer wieder ihre Leinen aus und beobachten die Schwimmer, unter denen die Köder hängen. Früher haben sie noch Pausen gemacht, um zu rauchen und zu reden. Aber seitdem beide keine Zigaretten mehr anrühren, gibt es beim Angeln keine Gelegenheit mehr zum Reden. Das Fischen ist eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die ihnen geblieben sind, seit Lech Walesa vor gut zehn Jahren in die Politik ging und Jerzy Borowczak entschied, bei den Arbeitern zu bleiben.

Die Politik residiert in der Polanki-Straße im Danziger Stadtteil Oliwa. Eine bessere Wohngegend, am Waldrand reihen sich Einfamilienhäuser aneinander. Eine dichte Hecke, mit Stacheldraht verstärkt, verwehrt den Blick auf Haus Nr. 54. Kameras überwachen den Gehweg vor dem Grundstück. Wenn sich das elektrische Tor öffnet, kann man einen Blick auf das Anwesen erhaschen: eine zweistöckige Villa im traditionellen Gutshaus-Stil des polnischen Landadels. Zwei Klingelschilder gibt es am Tor: "Ochrona" (Wachschutz) und "Rezydencja" (Residenz), ein Familienname fehlt. Aber jeder Danziger weiß, wer hier seit drei Jahren wohnt: der Mann, der heute vor zwanzig Jahren die Zulassung der Solidarno¿s¿c erzwang, der ersten freien Gewerkschaft im Kommunismus. Seit 1995 ist er Präsident im Ruhestand, mit Dienstwagen und Leibwächter. Die Insignien der Macht bezeugen, dass der Elektriker von der Danziger Werft in den höheren Dienstadel aufgestiegen ist.

Jerzy Borowczak arbeitet als Einziger aus der Streikführung von 1980 bis heute auf der Werft: in der Betriebsorganisation der Solidarno¿s¿c. Auch er wohnt nicht mehr am alten Ort. Damals war er 22 und Junggeselle. Inzwischen hat er zwei Kinder. Mit "M 3" beschreibt er knapp seine Wohnverhältnisse - das Kürzel des sozialistischen Polen für eine Dreizimmerwohnung im Plattenbau, 52 Quadratmeter. "Mehr ist mit einem Arbeitergehalt nicht drin." Empfindet er Neid? "Walesa hat den Nobelpreis bekommen und war Präsident. Gemessen an anderen Staatsoberhäuptern wohnt er eher bescheiden."

Noch bescheidener sieht es beim Sportclub "Polonia Gda¿nsk" hinter dem Werftgelände aus, wo Borowczak in seiner Freizeit Jugendmannschaften betreut. Fußballpokale aus Lodz, Ljubljana und Recklinghausen stehen hinter ihm auf einem Holzregal. Draußen säumen Industrieabfälle die Wege, ein Grauschleier von den Schloten ringsum bedeckt alle Oberflächen, auf dem Sportplatz klaffen Löcher. An allen Ecken fehlt das Geld. Die Sieger über den Kommunismus sind die Verlierer der Wende.

16 000 Arbeiter hatte die Werft 1980, heute sind es 2000. "Ich könnte jetzt Regierungsmitglied sein", sinniert Borowczak und rührt im Tee. "Den Vizeminister für Jugend und Sport haben sie mir angeboten, als Solidarno¿s¿c1997 die Wahl gewann. Aber ich bin Gewerkschafter." Als Politiker müsse man lernen, zu lügen und zu betrügen. Politik und Gewerkschaftsarbeit dürfe man nicht vermischen, erregt er sich über den heutigen Solidarno¿s¿c-Führer Marian Krzaklewski, der im Oktober Präsident werden will. "Der hat unser oberstes Prinzip verraten: NSZZ", zitiert er das Kürzel vor dem roten Solidarno¿s¿c-Schriftzug - "Unabhängige, selbstverwaltete Gewerkschaften". Genau das hatten sie den Kommunisten vorgeworfen, dass die alle Organisationen politisch auf Linie bringen wollten.

1979 hat Borowczak auf der Werft angefangen. Er wollte unbedingt nach Danzig, in seiner pommerschen Geburtsstadt Bialogard (Belgard) sprach man von der Kranführerin Anna Walentynowicz und dem Elektriker Lech Walesa, die 1976 rausgeschmissen worden waren. In "Radio Freies Europa" hatte er die Namen Adam Michnik und Jacek Kuron gehört, Intellektuelle, die 1976 das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) gegründet hatten. Da wollte er dabei sein.

Wann er Walesa zum ersten Mal sah, weiß er nicht mehr genau. Aber als der 1980 auf der Werft auftauchte, da haben sie gemeinsam Flugblätter verteilt, nachts Plakate geklebt. "Ein richtiger Kumpel, obwohl zehn Jahre älter. Er war der natürliche Anführer der Bande, ließ uns das aber nicht spüren. Er teilte ein, wer was macht, vielleicht aus Gewohnheit, er war ja Korporal bei der Armee."

Der Kontakt ist immer noch eng. Walesa war Borowczaks Trauzeuge und ist Pate seines Ältesten. Die Präsidentenjahre haben sie nicht entfremdet. "Es war ein tolles Gefühl, ihn im Fernsehen im Weißen Haus zu sehen. Er hat immer mal wieder von unterwegs angerufen." Und Borowczak ins Belvedere eingeladen, den Amtssitz in Warschau. "Wenn man immer wieder zusammen verhaftet und von der Polizei verprügelt wurde, das schweißt zusammen."

Walesa empfängt in seinem Büro im Herzen der Danziger Altstadt: im 3. Stock des Grünen Tors am Rande des Langen Marktes. Ein Leibwächter steht am Eingang, Sekretärin und Rechtsberaterin schwirren herum, sein Büro ist riesig, erst als der Besucher in der Sofaecke Platz genommen hat, erhebt sich der Präsident, wie er sich anreden lässt, vom Schreibtisch. Der Schnauzer, der ihn berühmt gemacht hat, ist nicht mehr ganz so dicht, das Haar ist grau geworden. Das Bild der Schwarzen Madonna von Tschenstochau trägt er wie damals am Revers.

Er gerät ins Schwärmen, wenn er die historischen Ereignisse Revue passieren lässt: Wie die Streiks sich nach einer Erhöhung der Fleischpreise im August 1980 über ganz Polen ausbreiteten, es keine Trennung mehr gab zwischen Intellektuellen und Arbeitern wie 1968 und 1970, und am Ende zehn Millionen in der Solidarno¿s¿c geeint waren; wie das überbetriebliche Streikkomitee gegründet wurde mit ihm an der Spitze, die Regierung schließlich alle, aber auch alle Forderungen erfüllen musste und am 31. August 1980 auf der Werft das Abkommen unterzeichnete: unabhängige Gewerkschaften, Garantie des Streikrechts, Freilassung politischer Häftlinge, Aufhebung der Zensur.

Es ist ein selbstgerechter, gealterter Mann, der sich da erinnert. Alles hat er richtig gemacht. Walesa, ein Werkzeug der Vorsehung, nur leider mitunter von der Welt verkannt. Ein Ex-Politiker, der darauf wartet, wieder ins Rad der Geschichte zu greifen. Er scheint sich sogar zuzutrauen, über sein historisches Bild zu bestimmen, so formt er die Vergangenheit. Doch da gibt es noch eine Geheimdienstakte über den Spitzel "Bolek" mit Formularen, die er unterschrieben hat. Wenn er das zu erklären versucht, kramt er immer neue Details hervor, von denen jedes für sich zu seinem Wunschbild in den Geschichtsbüchern passen mag, die aber nicht zueinander passen.

Wenn Borowczak darauf angesprochen wird, lächelt er nachsichtig. Klar, der Geheimdienst habe gefälschtes Material produziert, um Misstrauen in der Solidarno¿s¿c zu säen, aber darauf sei man nicht reingefallen. Ja, er hat eine schleichende Veränderung bei seinem Freund festgestellt: durch die Internierung im Kriegsrecht, den Nobelpreis 1983, die wachsende politische Verantwortung am Runden Tisch 1989. "Er war nicht mehr so unbeschwert, so spontan wie 1980. Er zögerte mit Entscheidungen, fragte uns Freunde um unsere Meinung, versuchte die politischen Wirkungen zu kalkulieren."

Da sei es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten gekommen. Dass die Arbeiter der Politik Verrat vorwarfen, weil es nicht genug Subventionen gab und die Werft, die einmal die Wiege der Solidarno¿s¿c war, zwei Mal Pleite ging - geschenkt. Darüber will er nicht richten. Doch in zwei Schlüsselmomenten hat er abgeraten. Im Sommer 1989, als die Solidarno¿s¿c sich die Regierung aufdrängen ließ und Tadeusz Mazowiecki erster nicht-kommunistischer Premierminister wurde. "Wir hatten doch gesagt: Parlamentsarbeit - ja, um politischen Druck auszuüben. Regierung - nein, das sollten die Kommunisten hübsch selber in Ordnung bringen."

Und das zweite Mal, als Walesa sich vor der Präsidentenwahl 1995 auf das Fernsehduell mit dem jungen Ex-Kommunisten Aleksander Kwa¿sniewski einließ. "Walesa hatte eine stürmische Amtszeit hinter sich, da gab es genug Angriffspunkte, Kwa¿sniewski konnte alles versprechen, musste sich für nichts verantworten. Das hat Walesa die Wiederwahl gekostet."

Für Walesa haben die anderen versagt. Der Westen, der Walesas großen Sieg über den Kommunismus schmählich verspielte, weil er keinen neuen Marshall-Plan für Osteuropa auflegte; sein Nachfolger als Präsident, der das Amt nur gefällig verwalte, aber Polen nicht voranbringe; und sein Nachfolger an der Spitze der Solidarno¿s¿c, der durch viele Fehler jede Chance vertan habe, Kwa¿sniewski am 8. Oktober zu besiegen. Deshalb muss er selbst ran, überarbeitet wie er ist. Gereizt und müde wirkt er. Letzte Woche musste der 56-Jährige nach einem Erschöpfungsanfall ins Krankenhaus.

Auch Borowczak leidet darunter, dass Solidarno¿s¿c nur noch Geschichte ist. "Die jungen Leuten können das Erreichte nicht schätzen, die wissen nichts über 1980. Wenn man heute 30 Brotsorten und fünferlei Klopapier in den Geschäften sieht, ist es schwer zu glauben, dass die Regale damals leer waren, dass es Lebensmittelkarten gab und nie genug Schuhe." Es scheint, als hoffe er insgeheim, dass Walesa in der ersten Wahlrunde ausscheidet. Dann werden sie angeln gehen, irgendwo in der Umgebung. Da kann niemand dem ehemaligen Gewerkschaftschef seine Führungsrolle streitig machen. "Walesa ist der bessere Angler", sagt Borowczak. "Der kennt sich mit den Ködern aus wie kein Zweiter."

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