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Politik: Sorry, typisch deutsch

Von Moritz Döbler

Danke, London! Deutschland ist besser als das Selbstbild der Deutschen, der Standort besser als sein Ruf. Zum Beweis solcher Ansichten hatte schon einmal eine hübsche These des „Economist“ gedient: dass ein Marsmensch eher in Deutschland als in den USA investieren würde. Jetzt kommt eine neue These des gut 160 Jahre alten liberalen Magazins dazu, das in seiner Titelgeschichte „Deutschlands überraschende Wirtschaft“ preist und den Bundesadler mit prallem Bizeps zeigt.

Lächelnd zieht der Kanzler in einer Talkshow den Artikel aus der Anzugtasche und macht den „Economist“ zu seinem Kronzeugen. Auch Minister Clement frohlockt in einem Interview. Na super, wir sind wieder wer. Dann könnten wir uns die Neuwahl ja sparen, oder? Wenn es nur so einfach wäre. Man kann die schlechten Daten der deutschen Volkswirtschaft (denn sie sind noch immer schlecht) außer Acht lassen, kann den Londoner Kollegen in allem Recht geben – und trotzdem zu dem Schluss kommen, dass es so nicht weitergeht.

Richtig ist, dass viele deutsche Unternehmen wieder ordentliche Gewinne erwirtschaften, manche sogar fantastische. Es liegen harte Jahre hinter ihnen, sie haben sich mühsam aufs Kerngeschäft konzentriert, die Effizienz gesteigert, Kosten gesenkt. Möglich wurde das auch durch die Zurückhaltung der Gewerkschaften. Die Reallöhne sind in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland um 0,9 Prozent gesunken, anderswo gestiegen. Auch die Lohnstückkosten sind gesunken, anderswo gestiegen.

Das alles stimmt. Natürlich sind die Löhne in Polen oder gar China immer noch weit unter deutschem Niveau. Aber die deutsche Wirtschaft hat in vielen Bereichen so viel zu bieten, dass wir dieses Gefälle aushalten. Es gilt das Wort von Bundespräsident Köhler und Kanzlerkandidatin Merkel, dass wir um ebenso viel besser sein müssen, wie wir teurer sind.

Sorry, aber spätestens jetzt wird es wieder typisch deutsch. Denn so gut es am Wirtschaftsstandort Deutschland zunehmend läuft, unsere Gesellschaft wird allein dadurch ihre größten Probleme nicht lösen. Hier fällt etwas auseinander, was bislang zusammengedacht worden war. Was ist denn, wenn Deutschland sich zu immer neuen Exportrekorden aufschwingt, aber nicht mehr Arbeitsplätze entstehen? Wenn die Fabriken besonders in Ostdeutschland so effizient sind, dass sie noch weniger Personal benötigen? Wenn Fachkräfte unter hoch dotierten Posten wählen können, aber die große Mehrheit nehmen muss, was übrig bleibt?

Dann nämlich kann kaum eine Arbeitsmarktreform wirken – die von Schröder & Co. ebenso wenig wie die im Wahlprogramm der Union. Dann bringen selbst perfekt funktionierende Arbeitsagenturen zu wenig. Jobs, die es nicht gibt, kann man nicht verteilen. Vielleicht ist es also an der Zeit, mit der Vermittlungsfiktion, den Arbeitsmarktlügen aufzuhören. Nicht jeder 50-jährige Arbeitslose in Schwedt oder Gelsenkirchen ist zu vermitteln, und vielleicht sollten er und wir anfangen, mit dieser Wahrheit zu leben.

Dann müsste man über neue Antworten nachdenken. Soll man solche Menschen staatlich alimentieren, ohne sie permanentem Druck auszusetzen? Das wäre vielleicht menschlicher, als Hartz V, VI und VII zu starten. Aber das ließe die Gesellschaft weiter zerfallen. Ein anderes Extrem wäre ebenfalls problematisch: Man könnte Tarifuntergrenzen einreißen und den Kündigungsschutz radikal abbauen – dann würde der heute chancenlose 50-Jährige zum Beispiel für ein paar Euro Tische in einer Kneipe abwischen, wie es in den USA gang und gäbe ist.

Die, die regieren, und jene, die regieren wollen, halten die Lügen aufrecht. Hoffen wir, dass wenigstens nach dem 18. September ein Nachdenken beginnt – nicht nur über den Wirtschaftsstandort, sondern über die Gesellschaft. Über die Frage, wie menschlich und gerecht die Gewinner mit den Verlierern umgehen wollen. Wir brauchen mutige, kreative und erfolgversprechende Antworten. Manches Tabu muss gebrochen werden. So oder so, es ist nicht die Zeit der Schwarzmaler und Bedenkenträger.

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