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Politik: Sozialneid oder Fremdenhass?

Im russischen St. Petersburg häufen sich die Anschläge auf Ausländer – die Stadtregierung spielt die Übergriffe herunter

Das Brot war ausgegangen am Sonntagabend im Wohnheim der Medizinischen Universität von St. Petersburg. Singh Nitesh Kumar, ein 27-jähriger Student aus Indien, bot sich an, Nachschub zu holen und ging zum Kiosk auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Minuten später schleppte er sich blutüberströmt und mit letzter Kraft zurück in das Zimmer im vierten Stock. Polizei und Notfallambulanz kamen erst nach über einer halben Stunde. Ohne Equipment für Wiederbelebung, das die Studenten bei ihren Anrufen ausdrücklich angefordert hatten: Singh hatte allein im Rücken fünf tiefe Messerstiche, innere Organe waren verletzt. Seine Kommilitonen, immerhin bereits kurz vor dem Arztdiplom, konnten die Blutungen nicht stillen.

Statt den Schwerverletzten zu bergen, der kaum noch atmen konnte, wollten die Retter jedoch zunächst seine Personalien aufnehmen und seinen Alkoholpegel feststellen. So jedenfalls erzählte es am Montagabend Muhammad, einer der Augenzeugen, Reportern von Radio Liberty. Die Notfallmediziner, so Muhammad, hätten von dem Inder zunächst sogar verlangt, sich auf eigenen Füßen zum Rettungswagen zu begeben. Sie hätten ihn mehrmals angeschrien, er solle aufstehen und sich nicht so haben: „So schnell wirst du schon nicht sterben.“

In derselben Nacht wurde ebenfalls in St. Petersburg ein Sudanese durch Schläge auf den Kopf schwer verletzt, die Täter stahlen ihm Jacke und Ausweis. Für die Ermittler willkommener Anlass, von Rowdytum und Sozialneid als wichtigstem Tatmotiv auszugehen. Auch in der Mordsache des Inders rangieren rassistische Tathintergründe bislang nur unter ferner liefen. Der Grund: Ausgerechnet in den Monaten vor dem G-8-Gipfel im Juli war St. Petersburg erschreckend oft durch fremdenfeindliche Exzesse – darunter mehrere Morde an farbigen Studenten – unangenehm aufgefallen. Die Stadtregierung und die Gouverneurin, Walentina Matwijenko, die mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin befreundet ist, hatten bei allen einschlägigen Delikten immer die gleiche Devise ausgegeben: niedriger hängen.

Die Täter kommen mit erstaunlich milden Strafen davon. Bisher eklatantestes Beispiel: der Mord an einem neunjährigen Mädchen aus Tadschikistan im September 2004. Bürgerrechtler attestierten Polizei und Justiz schon des öfteren Sympathien für stramm nationale Überzeugungstäter. Ausländische Studenten forderten daher von der Leitung der Medizinischen Universität Videoüberwachung für die Zugänge zu ihrem Wohnheim. Weil bisher dennoch nichts geschah, machen sich jetzt auch antifaschistische Organisationen dafür stark. Aufgeschreckt meldete sich inzwischen auch die Polizei zu Wort: Gemeinsam mit den Hochschulen seien Maßnahmen ergriffen worden, um auf dem Campus maximale Sicherheit zu garantieren, so Polizeisprecher Leonid Kowalenko. Außerhalb des Geländes seien die Studenten jedoch „gleichen Gefahren wie andere Bürger Russlands ausgesetzt, ausgeraubt und zusammengeschlagen zu werden“.

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