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Trommelt für eine Bürgerversicherung: der Gesundheitsexperte und stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Karl Lauterbach.

© Mike Wolff

SPD-Experte Lauterbach zur Bürgerversicherung: "70 Prozent der Privatversicherten würden wechseln"

Für die Patienten wäre die Bürgerversicherung eine feine Sache, sagt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Doch auch viele Ärzte würden von dem Systemwechsel profitieren.

Umfragen zufolge sind die Deutschen mit ihrer Gesundheitsversorgung sehr zufrieden. Die SPD will das System mit ihrer Idee einer Bürgerversicherung dennoch komplett umkrempeln. Warum?

70 Prozent der Bürger wünschen sich die Bürgerversicherung. Das Konzept ist mittlerweile bekannt. Wir folgen somit nur dem Wunsch der Bevölkerung.

Gesundheitsminister Hermann Gröhe wirft Ihnen vor, diesen Wunsch durch eine „Neidkampagne“ zu schüren...

Es ist herablassend, wenn man Menschen, die den Eindruck haben, dass Privatversicherte bevorzugt werden, beispielsweise gegenüber ihren eigenen Kindern, nur Sozialneid unterstellt. Das darf ein Gesundheitsminister nicht tun.

Was genau haben Sie denn vor? Wollen Sie die private Krankenvollversicherung abschaffen oder nur ausbluten lassen?

Am Ausbluten ist die PKV schon jetzt, weil es immer weniger junge Leute gibt, die sich in dieses Risiko wagen. Wir wollen, dass alle Privatversicherten in die Bürgerversicherung wechseln können. Und dass jeder, der sich neu versichern muss, etwa durch Berufseinstieg, automatisch Mitglied wird. Es ist ein geregelter Übergang, bei dem keiner benachteiligt wird.

Was geschieht mit denen, die privat versichert bleiben wollen?

Die tragen dann natürlich ein hohes finanzielles Risiko. Die Beiträge der PKV steigen ja schon jetzt sehr stark an. Das wird sich dann natürlich noch verschärfen.

Gibt es ein zeitlich befristetes Wechselfenster für bisherige PKV-Kunden?

Die Bürgerversicherung sollte ein offenes Angebot sein. Wobei ich davon ausgehe, dass es der allergrößte Teil der Privatversicherten schnell annehmen wird. Das wissen wir von vielen Betroffenen.

Ist es nicht ungerecht, wenn diejenigen, die als junge gesunde Menschen mit der PKV deutlich günstiger gefahren sind, jetzt ohne Weiteres in die GKV wechseln dürfen?

Das ist ein kleines Unrecht im Vergleich zu dem großen, dass gesetzlich und privat Versicherte gegenwärtig bei gleicher Krankheit unterschiedlich behandelt werden. Kassenpatienten kommen oft nicht an Spezialisten oder warten sehr lange auf einen Termin bei ihnen. Privatversicherte werden oft unnütz behandelt, mit sehr teuren Verfahren, sie sind überversorgt. Diese beiden großen Ungerechtigkeiten stehen im Vordergrund.

Würde es für gesetzlich Versicherte in der Bürgerversicherung billiger oder teurer?

Es wird zunächst einmal besser, denn derzeit verteilen sich die Ärzte ganz ungerecht im Land. Wo es viele privat Versicherte gibt, ballen sich die Ärzte. Und wo es kaum privat Versicherte gibt, fehlen sie. Gesetzlich Versicherte werden bei einer Bürgerversicherung also leichter Zugang zu Medizinern, insbesondere zu Fachärzten finden. Und unterm Strich dürfte der Beitragssatz niedriger sein als bisher für gesetzlich Versicherte. Sollte es einen Kostenanstieg geben, würde er mehr als kompensiert durch die vielen Gutverdiener, die aus der PKV in die Bürgerversicherung wechseln würden.

"Wir wollen die Krankenkassen nicht zu einem zweiten Finanzamt machen."

Wäre es nicht sinnvoll, für die Beitragshöhe aus Gerechtigkeitsgründen nicht nur das Gehalt, sondern auch Miet- und Zinseinnahmen zu berücksichtigen?

Nein wir wollen die Krankenkassen nicht zu einem zweiten Finanzamt machen. In die Bürgerversicherung fließen ja auch Steuern, über die Miet- und Zinseinkünfte bereits erfasst sind. Das ist gerechter, weil es bei den Steuern ja keine Bemessungsgrenze nach oben gibt. Und es ist auch viel unbürokratischer.

Was soll mit den Altersrückstellungen der Privaten geschehen? Eigentlich gehören die 233 Milliarden Euro ja den Versicherten?

Das ist richtig, und ich würde mich freuen, wenn dieses Geld an die Versicherten ausgezahlt werden könnte. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das aber völlig offen. Wahrscheinlich muss darüber das Bundesverfassungsgericht entscheiden.

Sie kalkulieren nicht mit diesem Geld?

Nein. Wir kalkulieren nur damit, dass mehr als 70 Prozent der Privatversicherten in die Bürgerversicherung wechseln werden. Außerdem werden auch gut verdienende Berufsanfänger Mitglied. Die Bürgerversicherung wird sehr solide finanziert sein. Wir brauchen das Geld aus den Altersrückstellungen nicht.

Dank der PKV erzielen Ärzte deutlich höhere Einkünfte. Müssen sie bei einer Bürgerversicherung den Gürtel enger schnallen?

In den Kliniken zahlen die Privaten jetzt schon die gleichen Fallpauschalen. Der Unterschied besteht vor allem bei niedergelassenen Fachärzten. Das wollen wir komplett ausgleichen. Ich rechne hier mit einer Kostenverlagerung von allenfalls vier bis fünf Milliarden Euro. Wir sorgen dafür, dass den Ärzten in der Summe keine Honorare durch die Hintertür gekürzt werden. Wir erwarten aber in bestimmten Bereichen, etwa bei der massiv überteuerten und in der PKV viel zu stark genutzten Labormedizin, deutliche Einsparungen.

Heißt: Die Garantie, dass der bisherige Mehrumsatz vollständig kompensiert wird, gilt nur für die Ärzte im Ganzen nicht aber für einzelne Fachgruppen?

Laborärzte und Radiologen mit vielen Privatversicherten werden ihren Umsatz durch die Bürgerversicherung wohl geschmälert sehen. Viele Hausärzte und Fachärzte auf dem Land werden aber profitieren. Wir wollen das Geld ja gerechter verteilen. Es ist ungerecht, dass ein Laborarzt heute im Schnitt fünfmal so viel verdient wie ein Hausarzt.

Studien zufolge sind durch Ihre Pläne mehr als 300 000 Arbeitsplätze in Gefahr. Wie seriös sind solche Hochrechnungen?

Die gesetzlichen Kassen, die ja 90 Prozent der Bürger abdecken, haben insgesamt nur 150 000 Mitarbeiter. Daran sieht man schon, wie abwegig diese von der PKV bezahlten Gutachten sind. Wir rechnen netto mit keinem Verlust an Arbeitsplätzen. Aber natürlich wird man welche verlagern müssen.

Die PKV behauptet, dass ohne Systemwettbewerb zwischen gesetzlichen und privaten Kassen medizinische Innovationen bedroht wären. Was ist falsch daran?

Bei Arzneimitteln haben privat Versicherte keinen schnelleren Zugang zu Innovationen. Sie sind aber gefährdet durch Pseudo-Innovationen, die bei der gesetzlichen Krankenversicherung schnell ausgeschlossen werden. Ein Beispiel sind hochgefährliche Stent-Implantationen im Kopf, die eigentlich Schlaganfälle verhindern sollen, sie oft aber oft auch hervorrufen. Gesetzlich Versicherte müssen solche Operationen nicht mehr erleiden. Privatversicherte haben nicht nur Vorteile, sie sind oft auch die Versuchskaninchen im System.

Kritiker verweisen auf Großbritannien und die Niederlande. Dort habe das Einheitssystem zu Rationierung und langen Wartezeiten geführt. Können Sie das für Deutschland ausschließen?

Natürlich. In der Bürgerversicherung gäbe es ja nicht nur eine Kasse, sondern mehr als 120 Anbieter, die weiter miteinander im Wettbewerb stünden. Und für das zentrale Problem dieser Länder ist nicht die Art der Versicherung, sondern die Tatsäche, dass es dort nur halb so viele Fachärzte gibt wie in Deutschland. Die Rationierung dort ist das Ergebnis einer viel zu geringen Zahl von Medizinern. Davon ist hierzulande nicht auszugehen.

Wie wollen Sie mit Beamten verfahren?

Auch sie könnten in die Bürgerversicherung wechseln und würden als Berufsanfänger automatisch aufgenommen. Ob sie dann einen Arbeitgeberbeitrag oder weiter eine Beihilfe für ihre Behandlungskosten erhalten wie bisher, bliebe den Trägern freigestellt bleiben. Wir können das als Bund ja den Ländern nicht vorgeben - und finanziell macht das keinen großen Unterschied. Entscheidend ist es, dass wir mit der Bürgerversicherung die explodierenden Kosten für die Beihilfe in den Griff bekämen. Steigerungsraten von sechs bis acht Prozent pro Jahr sind nicht ohne Weiteres zu erbringen. Im übrigen ist es ungerecht, dass der Steuerzahler für die von ihm finanzierten Beamten viel höhere Gesundheitsausgaben schultern muss als für ihn selbst zur Verfügung stehen.

Was ist gewonnen, wenn sich Reiche mit Bürgerversicherung weiter Zusatzversicherungen leisten. Haben wir dann nicht wieder eine Zwei-Klassen-Medizin?

Bisher hat sich in keinem System gezeigt, dass Zusatzversicherungen eine gefährliche Form der Zwei-Klassen-Medizin darstellen. Es geht dabei in der Regel um Komfort. Bessere Ärzte oder Diagnostik kann man sich mit Zusatzversicherungen nicht kaufen. Und wir legen ja fest, dass sich die Arzthonorare für gleiche Leistung nicht unterscheiden dürfen.

In der aktuellen Legislatur haben Sie das Thema nicht angefasst. Was ist, wenn es nach der Wahl erneut eine schwarz-rote Regierung gibt? Bleibt die Bürgerversicherung dann weiter in der Schublade oder machen Sie sie zur Koalitionsbedingung?

Weil ich nicht von einer neuerlichen schwarz-roten Regierung ausgehe, ist das eine rein hypothetische Frage. Die Bürgerversicherung hat für uns aber sehr hohe politische Priorität. Wenn wir, in welcher Konstellation auch immer, regieren, wird sie eines unserer wichtigsten Themen sein.

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