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Politik: Spiegel der Nation

Von Bernhard Schulz

Wenn Bundeskanzlerin Merkel heute die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) eröffnen wird und damit das eigentliche Museum selbst – denn die Institution ist schon seit 17 Jahren mit Ausstellungen präsent –, so übernimmt sie das Erbe ihres Vor-Vorgängers in ganz ungeahnter Weise. Denn ohne Wende und Wiedervereinigung stünde Angela Merkel am selben Ort, dem Zeughaus im Herzen Berlins, im DDR-„Museum für Deutsche Geschichte“ und würde darüber belehrt, dass es zwei Deutschlands gebe und sie das Glück genieße, in der „sozialistischen deutschen Nation“ zu leben.

Ein paar Kilometer weiter westlich stünde dann das West-DHM einsam im Spreebogen, wo es 1987 von Helmut Kohl gegründet wurde. Nation? Mit diesem Begriff konnte Westdeutschland in den selbstzufriedenen 80er Jahren herzlich wenig anfangen. So wäre das Museum buchstäblich zu einem Museum der Nation geworden – zu nicht mehr als einer Erinnerungsstätte daran, dass es eine deutsche Nation einmal gegeben hat, wenn überhaupt.

Unversehens aber hat die Nation zu ihrer äußeren Gestalt, dem Nationalstaat, zurückgefunden. Das DHM, dessen Gründer dafür in geradezu hinterlistiger Naivität den Namen „Nationalmuseum“ vorschlugen, als derlei noch auf dem Index stand, haben Recht bekommen – und zwar von der Geschichte. Der Glücksfall von 1989/90, mit dem die Teilung in die beiden Deutschlands durch die erneuerte Einheit aufgehoben wurde, macht das DHM zu jenem Ort, an dem sich die Nation in sinnlicher Form, anhand von Objekten und Bildern, darüber informieren und vielleicht sogar verständigen kann, was sie als Nation denn sei, woher sie kommt und was sie an historischem Gepäck mit sich schleppt.

Das deutsche Gepäck ist besonders schwer, und das DHM verschweigt es nicht. Im Gegenteil. Das 20. Jahrhundert ist auf eine furchtbare Weise zu einem „deutschen Jahrhundert“ geworden, mit zwei Weltkriegen, Völkermord und waffenstarrender Teilung. An diesem Erbe kommt niemand vorbei. Aber zugleich wird deutlich, dass die Erbanteile höchst unterschiedlich verteilt wurden, und Angela Merkel steht mit ihrer Person für die ungleiche Last ein, die nach 1945 auf die beiden deutschen Teilstaaten fiel.

Nation, so hat es der Franzose Ernest Renan in seiner berühmten Rede von 1882 gesagt, sei „ein tägliches Plebiszit“. Schwer zu sagen, wie dieses Plebiszit 1987 ausgefallen wäre, als das DHM an einem kühlen Oktobertag aus der Taufe gehoben wurde, noch dazu im Reichstag, damals das Symbol des Scheiterns eines friedlichen Deutschland. Die Nation war gewissermaßen verdampft, in den Verbrechen des Nazi-Regimes, in Völkermord und Vernichtungskrieg. An diesem Erbe hat sich nichts geändert, kann sich niemals etwas ändern. Aber der Bezug zur Geschichte unterliegt dem Wandel. Das DHM, wiewohl staatlich gegründet, doch staatsfern aufgewachsen, dokumentiert diesen Wandel. Neue Fragestellungen drängen heran, wie sich an der gerade jetzt so intensiv geführten Debatte über die Aufarbeitung des SED-Regimes zeigt. Jüngere Generationen fragen unbefangener nach den Ereignissen, wie die Debatten um Bombenkrieg und Vertreibung, um deutsches Leid neben dem unsäglichen Leid der von Deutschen begangenen Verbrechen zeigen.

Und es wird, anders als 1987, nach der Herkunft gefragt. Wer sind wir Deutschen? In welcher politischen, staatlichen Gestalt haben wir gelebt, bevor jenes Unheil begann, das jahrzehntelang das deutsche Selbstbild bestimmte? So ist es nur allzu richtig, dass das DHM in unvordenklichen Zeiten beginnt, mit den Römern, die sich in den teutonischen Wäldern verloren, mit den Kaisern und den Kriegen, die immer auch europäische waren. Aus alledem hat sich erst spät so etwas wie „Deutschland“ herausgeschält. Jetzt existiert es, eingebettet in Europa – und doch etwas Eigenes. Was es ist, können wir im DHM staunend erfragen. Das Plebiszit, von dem Renan sprach, wäre heute ein anderes als 1987.

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