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Politik: Stimmen trimmen

Die rot-grüne Mehrheit im Bundestag ist knapp. Die Union will dies nutzen – und kündigt traditionelle Fairnessregeln auf

Von Albert Funk

Neun Stimmen Mehrheit hat Rot-Grün im Bundestag, die SPD-Fraktion besitzt nur drei Mandate mehr als die CDU/CSU. Weil es so schmerzhaft knapp ist, glüht die Fantasie der Parlamentstaktiker bei der Union. Die neueste Variante, um Rot-Grün das Regieren zu erschweren, legte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unions-Fraktion, Volker Kauder, vor: Er will die so genannte Pairing-Vereinbarung nicht mehr erfüllen. Das könnte dazu führen, dass Rot-Grün bei der einen oder anderen Abstimmung die Mehrheit verfehlt. „Pairing", eine alte Tradition, bedeutet, dass die Fraktionen sich vor Abstimmungen absprechen, wenn Abgeordnete dienstlich verhindert sind oder krankheitshalber fehlen. Sind etwa 15 SPD-Abgeordnete deshalb nicht anwesend, nimmt die Union so viele Abgeordnete aus dem Rennen, dass die Mehrheitsverhältnisse gemäß der Bundestagswahl gewahrt bleiben. In der Geschäftsordnung ist das „Pairing" nicht verankert, es wird informell geregelt. Kauder will das nutzen: „Die Koalition sagt immer: Mehrheit ist Mehrheit, auch wenn sie noch so knapp ist – wie knapp, das soll bei jeder Abstimmung deutlich werden.“

Die Aufkündigung der Fairness-Abrede ist ein weiterer Versuch der Union, das knappe Ergebnis vom 22. September zu ihren Gunsten zu trimmen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse ergibt sich nämlich aus Unions-Sicht auch ein Patt im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Nach dem bislang verwendeten Verteilungsschlüssel für die Bundestagsmitglieder in dem Gremium kämen SPD wie Union auf sieben Sitze, Grüne und FDP auf einen. Ein Patt herrscht auch bei den 16 Sitzen der Länder. Rot-Grün meint dagegen, es müsse sich auch im Vermittlungsausschuss niederschlagen, dass die Bundesregierung im Bundestag über eine Mehrheit verfügt. Streit im Ältestenrat ist damit programmiert. Bliebe es beim Patt, könnte die Union zwar jene Gesetze nicht verhindern, die nicht der Zustimmung des Bundesrats unterliegen, aber eine Verzögerung wäre möglich.

Noch ein dritter Verfahrensaspekt beschäftigt die Unions-Taktiker. Sie bezweifeln, dass 16 000 Zweitstimmen der SPD in Berlin gezählt werden dürfen, weil in diesen Fällen die Erststimmen an PDS-Kandidatinnen gingen. Hintergrund ist eine Anregung des Bundesverfassungsgerichts von 1988, wonach Zweitstimmen bei erfolgreichen Direktkandidaten nicht zählen sollen, wenn deren Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Allerdings hat der Bundestag die Anregung nicht ins Wahlgesetz aufgenommen. Käme die Union mit ihrer Ansicht durch, wäre sie stärkste Partei, denn der Vorsprung der SPD beträgt bundesweit nur 6027 Stimmen. Selbst stärkste Fraktion könnte die Union noch werden und damit den Bundestagspräsidenten stellen – theoretisch jedenfalls. Nach einem Urteil des Verfassungsgerichts dürfen Überhangmandate beim Ausscheiden eines Abgeordneten aus jenem Bundesland, in dem diese Mandate anfielen, nicht durch einen Listennachrücker ersetzt werden. Wenn also zwei SPD-Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt und je einer aus Hamburg und Thüringen ausscheiden – egal, aus welchen Gründen – dann hätte die Union die Nase vorn. Regieren würde freilich weiterhin Rot-Grün. Mit fünf Stimmen Vorsprung.

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