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Befürworter des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums demonstrieren in Barcelona.

© Nicolas Carvalho Ochoa/dpa

Streit um Unabhängigkeit: Katalonien braucht ein neues Referendum

Die Fronten im Streit um Katalonien sind verhärtet. Ein neues Referendum mit voller Anerkennung von allen Seiten ist die einzige Möglichkeit für eine Lösung. Ein Kommentar.

Eva Anduiza hat eine außerordentliche Professur für Politikwissenschaften an der Universitat Autònoma de Barcelona. Read the English version.

Die katalanische und die spanische Politik sind in den letzten zwei Jahrzehnten durch die Versuche Kataloniens, seine Selbstverwaltung zu erhöhen, und die Versuche der spanischen Regierung, diese einzuschränken, bestimmt gewesen. Wir erleben jetzt den Höhepunkt dieses Konflikts. Nach mehreren Jahren eindrucksvoller Massenproteste für die Unabhängigkeit hat das katalanische Parlament eine Referendumsvorlage angenommen, die vom Verfassungsgerichtshof direkt wieder aufgehoben wurde.

Am Sonntag, dem 1. Oktober, haben rund zwei Millionen Katalanen ihre Wahl unter irregulären und außergewöhnlichen Umständen getroffen, darunter brutale Unterdrückung der Polizei. Am 10. Oktober erklärte der Präsident der katalanischen Regierung, dass er von einem Mandat für die Unabhängigkeit ausgeht, da etwa 90% der Wähler für die Unabhängigkeit gestimmt hätten. Gleichzeitig setzte er den Prozess vorübergehend außer Kraft, da er auf Verhandlungen mit der spanischen Regierung wartete. Während ich diese Zeilen schreibe, hat die spanische Regierung eine Klarstellung beantragt und prüft, ob sie die Aussetzung der Autonomie Kataloniens dem Parlament vorlegen soll. Wie sind wir hier hingekommen?

Die katalanische Verfassung wurde nicht geachtet

Als erstes muss anerkannt werden, dass der spanische Staat leider nicht wirklich ein Bundesstaat mit einer generalisierten, föderalen politischen Kultur ist, die Vielfalt, Selbstverwaltung und gemeinsame Herrschaft respektiert. Das spanische Parlament hat das 2005 von 88% des katalanischen Parlaments gebilligte Estatut (katalanische Verfassung) stark abgeändert. Die Welle des Unbehagens und die Unterstützung für die Unabhängigkeit wuchs besonders seit 2010, als das Verfassungsgericht (zusammengesetzt von Richtern, die von den wichtigsten spanischen Parteien PP und PSOE ernannt wurden) die von der katalanischen Volksabstimmung genehmigte, bereits eingeschränkte Version des Estatut weiter korrigierte.

Der Zentralstaat missachtet Katalonien in Bezug auf Infrastrukturinvestitionen, stört häufig die Kompetenzen der katalanischen Gesetzgebung und bringt diese oft vor das Verfassungsgericht. Die Katalanen sind schmerzlich getroffen von dieser Einstellung des spanischen Staates.

Der katalanische Konflikt wird instrumentalisiert

Zweitens wurde der katalanische Konflikt sowohl in Katalonien als auch in Spanien für Wahlkampfzwecke genutzt. Insbesondere hat die PP die katalanische Frage intensiv genutzt, um Stimmen in anderen Teilen Spaniens zu gewinnen, um in Spanien anti-katalanische Gefühle und in Katalonien anti-spanische Gefühle zu erzeugen. Das hat als nützliche Ablenkung von der Wirtschaftskrise und den zahlreichen Korruptionsskandalen, die die PP betreffen, funktioniert.

Trauriger Weise hat diese Strategie dazu beigetragen, die Frage weiter zu polarisieren und die politischen Präferenzen Spaniens und Kataloniens weiter auseinander zu ziehen (die spanischen Bürger wollen mehr Zentralisierung, die katalanischen Bürger mehr Dezentralisierung) und die Spaltung innerhalb der katalanischen öffentlichen Meinung zu erhöhen.

Drittens hat die katalanische Regierung auch praktisch die territoriale Frage genutzt, um die Aufmerksamkeit von Korruption und Sparmaßnahmen abzulenken. Obwohl der Unabhängigkeitsdiskurs im katalanischen öffentlichen Raum ziemlich hegemonial ist, sind die Katalanen in dieser Angelegenheit gespalten, und die Zustimmung zur Unabhängigkeit liegt unter 50% in der Wählerschaft. Dies ist einer der vielen Gründe, warum die katalanische Regierung eine sehr fragwürdige Entscheidung getroffen hat, als sie sowohl das katalanische als auch das spanische Recht verletzte, um das Referendum vom 1. Oktober zu fordern.

Das Referendum konnte kein Stimmungsbild liefern

Dieses Referendum kann nicht wirklich als ein geeignetes Instrument angesehen werden, um herauszufinden, was die katalanischen Bürger wollen. Es war ein zusätzliches Ereignis der groß angelegten Mobilisierung zugunsten der Unabhängigkeit. Aber die Reaktion der spanischen Regierung, die jene Bürger brutal verprügelte, die wählen wollten, war unverhältnismäßig und unnötig, nicht hinnehmbar für einen demokratischen Staat, der die Menschenrechte respektiert.

Und was jetzt? Ein einvernehmliches Referendum mit voller Anerkennung von allen Seiten scheint mir in dieser Phase die einzige Möglichkeit zu sein, die Frage relativ nachhaltig zu regeln. Katalonien, Spanien und Europa müssen einen Weg finden, um das Problem zu lösen oder zumindest die Kontrolle darüber zu erlangen. Andere Länder taten es zuvor und mehrere Verfassungsrechtler haben argumentiert, dass ein solches Referendum mit unserer bestehenden Verfassung vollkommen vereinbar ist.

Der Konflikt ist eine europäische Herausforderung

Dieser Konflikt kann nicht als eine interne spanische Angelegenheit betrachtet werden: Dies ist eine europäische Herausforderung und umfasst Fragen der Demokratie, institutionelle Regelungen für Minderheitenschutz und Menschenrechte. Die europäischen Regierungen und Akteure können eine grundlegende Rolle dabei spielen, die spanische Regierung darauf aufmerksam zu machen, dass die Aufrechterhaltung der aktuellen Situation und die Unterdrückung des Konflikts weder politisch tragfähig noch demokratisch akzeptabel sind.

Die spanische Regierung versucht das Referendum vom 1. Oktober zu ignorieren, weil es weder legal noch legitim ist, aber es sollte nicht ignoriert werden, dass über 40% der katalanischen Bürger für die Unabhängigkeit von Spanien sind und dass etwa 80% der katalanischen Bürger für ein einvernehmliches Referendum sind, um zu entscheiden, ob Katalonien weiterhin Teil Spaniens sein soll. Der spanische Staat hat die Pflicht, eine Alternative anzubieten, die für die katalanischen Bürger attraktiv ist, wenn sie verhindern will, dass die Unabhängigkeitsunterstützung die Oberhand gewinnt.

Die PSOE, die wichtigste Partei in der Opposition, ist ein entscheidender Akteur in diesem Spiel und scheint die PP dazu bewegt zu haben, eine Verfassungsreform einzuleiten. Es ist meine aufrichtige Hoffnung, dass diese Reform erfolgreich sein wird, aber ich muss anerkennen, dass die Distanz zwischen den verschiedenen Positionen so groß ist, dass sie die Aufgabe entmutigend erscheinen lässt. Es wird alle Anstrengungen erfordern, die wir uns vorstellen können, und vielleicht reicht auch das nicht.

Eva Anduiza

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