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Stuttgart 21: Schlichtung und Wahrheit

Heiner Geißler sollte Fronten glätten und der Eskalation begegnen. Doch in neun Verhandlungstagen kamen sich Befürworter wie Gegner von Stuttgart 21 kaum näher. Am Ende steht ein pragmatisches Urteil.

Von Robert Birnbaum

Boris Palmer steht im vierten Stock des Stuttgarter Rathauses und macht sich so seine Gedanken. „Wenn er sagt ,Weiterbauen‘, dann ist das für uns ein Desaster“, sinniert Palmer. „Uns“, das ist das Bündnis gegen Stuttgart 21, für das der grüne OB von Tübingen in den letzten sechs Wochen viele Stunden im Schlichtungsausschuss verbracht hat.

„Er“ ist der Schlichter. Irgendwo im Flur hinter Palmer wandert Heiner Geißler da noch zwischen zwei Räumen hin und her. Im einen sitzen die Gegner des neuen Bahnhofs, im anderen die Befürworter. „Er“ wird heute seinen Schlichterspruch fällen. Geißler wollte am frühen Nachmittag schon längst zurück sein von seiner pendeldiplomatischen Mission, aber es dauert. Ist ja auch kein Wunder. Was der 80-Jährige hier verkünden wird, hat nicht nur Folgen für die baden-württembergische Landeshauptstadt, für die Zukunft von Palmers Grünen wie für die Schwarzen des Ministerpräsidenten Stefan Mappus, für die Bilanz der Bahn, die Landtagswahl im März und die Geschicke der CDU-Vorsitzenden und Kanzlerin Angela Merkel – nein, Geißlers Spruch reicht weit hinaus in die Zukunft und in die ganze Republik. An einem Bahnhofsneubau wird hier gerade ein demokratisches Exempel statuiert.

Dass es um solche Fragen geht, kann man allerdings am Dienstagmorgen nur erahnen. Im Mittleren Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses trudeln die Kontrahenten ein, so wie sie es jetzt acht Gesprächsrunden hindurch getan haben. Weil das Rathaus mit seinem Turm architektonisch in die Periode des Klotzbetons fällt, hat die Verwaltung es von außen in einen riesigen Adventskalender verwandelt. Die Nummer 21 hängt neckisch vor einem Sitzungssaalfenster.

Um kurz vor zehn stiefelt Geißler in den Saal: dunkelblauer Anzug, blauer Rollkragenpulli, darüber dieses von Falten und Lebenserfahrung durchzogene Reineke-Fuchs-Gesicht. Er gibt reihum allen die Hand, dann stellt er für die Fernsehzuschauer die Beteiligten noch einmal vor. Er tut es auf seine Art. „Ich find’s gut, dass Sie sich wenigstens für das Ergebnis der Schlichtung interessieren“, kriegt Bahnchef Rüdiger Grube zu hören. Und weil der passionierte Bahnfahrer Geißler schon mal dabei ist, klagt er über den Kaffee im ICE („von verbesserungswürdiger Qualität“) und über diese vertrackten Fahrkartenautomaten: „Wenn Sie zum Beispiel nach Heilbronn wollen, und dann drücken Sie auf die falsche Taste, dann landen Sie in Pforzheim!“ Der Saal kichert. Grube kann nicht so richtig mitlachen.

"Wenn die Katze ein Pferd wäre, könnten wir auf Bäumen reiten"

Danach gibt Geißler die Mikrofone frei für die Schlussworte. Erst kommen die Verteidiger des Untergrundbahnhofs Stuttgart 21 dran, dann die Gegner. In der Sache lösen die meisten der Vorträge irritiertes Kopfschütteln auf der Zuschauerbank aus. Was da auf beiden Seiten wieder an eisernen Gewissheiten vorgetragen wird, fällt weit hinter den Stand der letzten Tage zurück.

Die wenigen, die sich konziliant äußern, sitzen ausgerechnet bei der einstigen Betonfraktion aus Bahn und Politik. Es ist der Technikvorstand der Bahn, Volker Kefer, der den Gegnern unumwunden einräumt, deren Alternativkonzept „Kopfbahnhof 21“ sei machbar. Er habe Demut gelernt, sagt der Ingenieur, aber auch den Wert der Beharrlichkeit. Kefer ist ein netter Kerl mit der Begabung, in komplizierten Debatten lächelnd und mit Leichtigkeit den Überblick zu behalten. In der letzten Sitzung hat er Palmer einen Nebenjob als Fahrplan-Planer angeboten, so gut hatte der Grüne das Fahrplankonzept der Bahn zerpflückt. Wenn einer sachkundige Sympathiewerbung für das Stuttgart-21-Lager betrieben hat, dann war es der freundliche Ingenieur Kefer.

Der zweite, der zumindest sagt, dass er viel gelernt habe und der Versäumnisse einräumt, ist der Ministerpräsident Stefan Mappus. „Keine Seite“ gehe als Gewinner oder Verlierer aus der Schlichtung hervor, wirbt der CDU-Mann. Im Halbrund gegenüber bei den Gegnern sieht man skeptische Gesichter. Der Mappus, steht in den Mienen geschrieben, hat löffelweise von dem Quellgips aus dem Stuttgarter Untergrund gefressen, von dem hier so viel die Rede war.

Als die Gegner an die Reihe kommen, weht ein Hauch von Demonstrantenton durch den Saal. Stuttgart 21 bringe nichts und koste zu viel – „ein Phantom“, sagt der Grünen-Landtagsabgeordnete Werner Wölfle. Und Gangolf Stocker, der für eine lokale Öko-Gruppe im Rathaus sitzt, knarzt wie seit 15 Jahren schon ins Mikrofon, es sei „nicht ausgeschlossen“, dass beim Tunnelbohren Mineralquellen verunreinigt würden.

Es ist, als hätten die letzten sechs Wochen nicht stattgefunden. Dabei hat doch jeder, der auch nur einmal etwas länger die Live-Übertragung im Sender Phoenix verfolgt hat, so viel lernen können. Er kennt dann Eisenbahner-Wortgetüme wie die Durchmesserlinie, die Fahrstreckenfreischaltung oder die Bremskurve. Letzteres hat nichts mit einem Zug zu tun, der zu schnell um die Ecke fährt, sondern ist die grafische Darstellung des Bremsvorgangs von, sagen wir, 120 auf null.

Das Wort tauchte in einer Debatte darüber auf, warum ein Zug in einem Kopfbahnhof länger zum Bremsen braucht als in einem Durchgangsbahnhof. Es hat eine Weile gedauert, bis Geißler dem Bahnvorstand Kefer und seinem Fahrplanchef Ingolf Leuschner abgenommen hat, dass der Zug in den Kopfbahnhof langsamer reinfährt, damit er nicht versehentlich gegen den Prellbock am Ende knallt, in den Durchgangsbahnhof aber flott hineinrauscht, weil er schlimmstenfalls ja bloß etwas zu weit hinten zum Stehen kommt. Das Etwas-zu-weit-hinten hat auch einen Namen, es heißt Durchrutschweg.

Ein bisschen unklar blieb, ob Geißler das alles wirklich nicht gleich verstanden hat oder ob er sich aus pädagogischen Gründen begriffsstutzig stellte. „Ich bin der Anwalt der Leute, die zuschauen“, hat er gleich zu Anfang betont. Folgerichtig besteht er auf Verständlichkeit: „Zahnlücke ist mir klar – aber was ist eine Taktlücke?“ Außerdem bestand er darauf, sich an die Fakten zu halten und nicht rumzuspekulieren: „Wenn die Katze ein Pferd wäre, nicht wahr, könnten wir die Bäume hochreiten.“

Die Debatte über die Bremskurve ist auch sonst ein gutes Beispiel für das Verfahren. Auf den ersten Blick wirkt es ja befremdlich, dass drei Dutzend erwachsene Menschen eine halbe Stunde lang darüber streiten, ob die Bremszeitverkürzung im geplanten neuen im Vergleich zu einem renovierten alten Bahnhof 1,0 Minuten beträgt oder eventuell nur 0,8 Minuten. Es ging aber am kleinen Detail um eine der großen Fragen: Leistet Stuttgart 21 wirklich so viel mehr, wie seine Anhänger bisher behauptet haben? Vor allem aber ging es hier wie auch sonst um die Sache.

Was hat das Reden gebracht? Sie sagen nicht mehr "Lügenpack"

Was das bedeutet, kann nur ermessen, wer den Grabenkrieg vor der Schlichtung erlebt hat. Auf der einen Seite eine brisante Mixtur aus ernsthaft besorgten Bürgern, parteipolitisch interessierten Wortführern und einem ganzen Panoptikum von Menschen, denen die Montagsdemo auf dem Taxiplatz am Nordflügel des alten Bahnhofs eine Bühne bot: Sentimentale, die an den alten Bäumen im Park hingen, Lokalapokalyptiker, die Stuttgart im Baustaub ersticken oder auf wasserempfindlichem Quellgips in Trümmer fallen sahen, Verschwörungstheoretiker aller Sorten oder auch jene Seniorinnen aus vornehmen Halbhöhenlagen, die fanden, für ihren Bedarf an Reiselust reiche der alte Bahnhof völlig aus. Dem gegenüber standen ein Unternehmen Bahn und eine Politik, die über den Bürgerprotest erst verblüfft waren und dann empört. Bis hin zur Kanzlerin haben sie das Lokalereignis zum Exempel erhoben. Mappus hat sich in Kampfpositur geworfen und von Fehdehandschuhen geredet und der Verteidigung des Rechtsstaats. Seit dem 30. September fehlt die Vokabel in seinen Reden.

Es war der Tag, an dem der Rechtstaat sich ins Unrecht setzte. Die Polizei schoss im Stuttgarter Schlossgarten mit Wasserwerfern auf Schüler und Rentner. Als am nächsten Tag die Bilder vom Mann mit den blutigen Augen in allen Zeitungen erschienen, hatte der Protest die Politik moralisch in der Hand. Es war pures Glück für Mappus, dass der Grünen-Politiker Wölfle einen Vermittler ins Spiel brachte. Mappus griff nach dem Rettungsring. Sicherheitshalber übernahm er sogar Wölfles Personalvorschlag. So kam Heiner Geißler mit 80 Jahren zum Job seines Lebensabends und lässt sie alle am Nachmittag erst einmal warten.

Um kurz vor fünf sind sie wieder im Saal, Wölfle, der Fotos von den Zuschauerbänken schießt, Mappus, der die dritte Banane des Tages futtert. Als Geißler durch die Tür kommt, klein, gebückt, mit unergründlicher Miene, wird es still. Diese Schlichtung sei Aufklärung im Sinne eines – listig abgewandelten – Kants, weil sie die Menschen im Zeitalter von Fernsehen und Internet befähige, sich aus „unverschuldeter Unmündigkeit“ zu befreien. „Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei“, sagt er und kommt zu seinem Votum.

Geißler empfiehlt, Stuttgart 21 weiterzubauen, weil es für alles andere zu spät sei. Aber er fordert, es anders zu bauen. Mit beiden Seiten hat er einen Katalog ausgehandelt: Zwei Gleise zusätzlich, alte Bäume im Baugebiet verpflanzen statt fällen, mehr Brandschutz, breitere Wege für Behinderte, viele kleine und größere Maßnahmen. Aus Stuttgart 21, sagt Geißler, müsse „Stuttgart 21 plus“ werden.

Ziemlich genau in diesem Moment klingt von draußen eine Trillerpfeife und ein paar Stimmen mit dem Schlachtruf der Bahnhofsgegner: „Oben bleiben!“ Das kommt von unten aus dem dritten Stock, wo einige hundert Bürger an einer Großbildleinwand den Schlichterspruch verfolgt haben. Er wird lauter und lauter, zornige junge Gesichter blicken die Treppe hoch zum Verhandlungssaal.

Oben in einer Ecke sagt Boris Palmer trotzig, dass man den Kopfbahnhof doch bauen könne. Aber wenn nicht, dann entstehe da jetzt wenigstens kein Chaosbahnhof. „Die Bürgerbewegung hat das Schlimmste verhindert.“ Stefan Mappus steht vor vielen Kameras. „Das ist ein guter Tag für Baden-Württemberg“, strahlt er. Heiner Geißler schaut ihn schräg von der Seite an. Er fand seinen eigenen Schlusssatz besser: „Ich wünsche dem Stuttgarter Demokratiemodell eine weite Verbreitung in Deutschland.“

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