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Politik: Tag ohne Arbeit

MAI-KUNDGEBUNGEN

Von Ursula Weidenfeld

Es hat selten einen ersten Mai gegeben wie diesen. Eigentlich hätten die Gewerkschaften Grund zu Freude und einiger Zuversicht. In diesem Jahr sind sie es wieder, die vorne sind. Der neue SPD-Vorsitzende Franz Müntefering will die Arbeitnehmer mit der Realität versöhnen. Bis es so weit ist, gilt ein vorläufiger Reformstopp. Müntefering winkt sogar mit einer anerkannt unsinnigen Maßnahme, der Ausbildungsplatzumlage. Für die Gewerkschaften ein Grund zur Freude am Tag der Arbeit? Sehen so Sieger aus?

Nach Feiern ist niemandem zu Mute. Der Chef der Baugewerkschaft bietet den Arbeitgebern in diesen Tagen Lohnverzicht an, um die Bauarbeiter künftig vor dem Fall in die Sozialhilfe bewahren. Der IG-Metall-Chef warnt eindringlich vor Verlagerungstourismus von Arbeitsplätzen, und der dritte, der DGB-Vorsitzende selbst, macht den vergeblichen Versuch, im gleichen Atemzug das vereinte Europa willkommen zu heißen und die Beitrittsländer vor Dumpingkonkurrenz zu warnen.

So deutlich wie an diesem ersten Mai ist es noch nie geworden: Das Herz des deutschen Sozialstaates, das Normalarbeitsverhältnis, ist schwer krank. Und niemand weiß, wie ihm zu helfen ist. Die Angreifer kommen von außen. Sie heißen Verlagerung von Arbeitsplätzen und Lohnkostenvorteil, oder: Dynamik der Märkte. Sie kommen aber auch von innen. Da heißen sie verschärfte Zumutbarkeitsregeln, Werkvertrag oder Minijob und unterhöhlen den Normaljob. Vordergründig. Tatsächlich sind diese Regeln Notoperationen, damit das System nicht ganz kollabiert.

Auch die Gewerkschaftschefs der IG Metall und von Verdi ahnen, dass daran nichts zu ändern ist. Nicht einmal, wenn alles wieder rückgängig gemacht würde, wenn Deutschland versuchte, seine Zollmauern hochzuziehen. Ein Land, das so stark in die Weltwirtschaft integriert ist wie Deutschland, könnte das nicht überleben. Die Diskussionen über Mindeststeuern und Sozialstandards, die Klagen über Dumping und Erpressung müssen deshalb ziemlich theoretisch bleiben. Sie mildern vielleicht den Schmerz, aber sie werden die Krankheit nicht heilen. Und die Gewerkschaften geben es zwar nicht zu, aber sie wissen, dass ein Zurückdrehen der Reformen das Ende für einen großen Teil der voll sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse bringen würde. Niemand wäre bereit, die unter diesen Umständen rasant steigenden Sozialversicherungskosten zu bezahlen, denn eine auch nur vage Aussicht auf adäquate Gegenleistungen gibt es nicht.

Für die Arbeitnehmer kommt es noch dicker: Die breite Lohnsenkungsdebatte – auch die Forderungen nach längerer Arbeitszeit gehören dazu – hat längst auch die Facharbeiter und Ingenieure bei den Werkzeugmaschinenherstellern und bei den großen Autokonzernen erreicht. Wenn aber selbst in den produktivsten und innovativsten Unternehmen künftig für gleichbleibende Einkommen länger gearbeitet werden muss, heißt das, dass niemand verschont bleibt wird.

In Deutschland wird es kaum Gewinner in dieser Auseinandersetzung geben. Das ist, trotz der lauten Reden, die unausgesprochene Einsicht des Tages der Arbeit. Viel gewonnen wäre schon, wenn es weniger Verlierer gibt.

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