zum Hauptinhalt

Tagesspiegel- Interview: SPD-Chef Sigmar Gabriel: Kanzlerin Merkel sucht Asyl auf den Gipfeltreffen

Der Vorsitzende der Sozialdemokraten sieht eine Flucht der Regierungschefin in die Außenpolitik. Im französischen Präsidentschaftswahlkampf wird er sich aber auch engagieren.

Von
  • Hans Monath
  • Antje Sirleschtov

Herr Gabriel, warum vertrauen die Deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel?

Weil viele Menschen noch den Eindruck haben, die Kanzlerin halte in der Euro-Krise das Geld zusammen. Das Gegenteil ist allerdings richtig. Dadurch, dass sie in Europa ausschließlich auf drastische Sparmaßnahmen setzt, bricht in unseren Nachbarländern gerade die Wirtschaft zusammen. Die Rettungsschirme müssen auf Kosten des deutschen Steuerzahlers immer größer werden, weil die Staatseinnahmen in diesen Staaten zusammenbrechen.

Sie haben vor rund zwei Wochen gesagt, für die SPD gehe es nicht darum, Frau Merkel „zu knacken“. Ist sie der SPD zu stark?

Wenn man als Regierungskoalition in den Umfragen innerhalb von zwei Jahren mehr als zehn Prozent verliert und heute schon feststeht, dass es 2013 für dieses Gebilde keine Wählermehrheit mehr gibt, spricht das nicht gerade für die Stärke von Frau Merkel. Sie weiß das auch und sucht deshalb Asyl auf den Gipfeltreffen der internationalen Politik. Angela Merkel möchte vom miesen Image ihrer Koalition nicht infiziert werden. Aber die Bundestagswahl ist erst in eineinhalb Jahren. Selbst der Gipfel-Flüchtling Merkel wird sich wieder in die Niederungen Deutschlands zurückbegeben müssen.

Führen Sie nun Wahlkampf gegen Angela Merkel oder gegen die Finanzindustrie und die soziale Ungleichheit?

Alle drei Dinge haben eine Menge miteinander zu tun. Die Finanzindustrie bedroht immer noch vor allem die mittelständischen Unternehmen und ihre Arbeitnehmer. Es ist die Merkel-Koalition, die in Europa auf der Bremse steht, wenn es um strikte Regulierung und die Besteuerung der Finanzmärkte geht. Nichts zeigt den Gegensatz zur Sozialdemokratie so krass wie Merkels Wort von der „marktkonformen Demokratie“. Wir stehen für einen demokratiekonformen Markt. Die Finanzindustrie muss wieder Diener der sozialen Marktwirtschaft werden.

Nach Lage der Dinge sind Sie für Merkel ein möglicher Regierungspartner …

Wir wollen Rot-Grün, die Chancen dafür stehen sehr gut. Das strategische Problem hat Frau Merkel: Selbst wenn die Union in den Umfragen gut dasteht – sie kannibalisiert die FDP und hat keinen Koalitionspartner.

Herr Gabriel, Sie wählen drastische Worte, wenn Sie sagen, beim Weltwirtschaftsforum in Davos säßen die „Täter“ zusammen. Wie oft war eigentlich Peer Steinbrück, einer der möglichen Kanzlerkandidaten der SPD, in Davos?

Viele Sozialdemokraten waren in Davos, aber eben nicht als Täter. Ich erinnere mich gut daran, wie selbst Gerd Schröder in Davos angegriffen wurde, weil er trotz Agenda 2010 für die Neoliberalen dort noch als viel zu sozialdemokratisch galt. Und kaum jemand hat das Verhalten der Finanzindustrie in Davos so scharf kritisiert wie Peer Steinbrück. In Davos treffen sich Leute, die nun erstaunt auf das Ergebnis ihrer eigenen ökonomischen Glaubensbekenntnisse schauen. Das Zeitalter des Neoliberalismus ist vorbei. Jetzt geht es darum, den Kapitalismus das zweite Mal zu zähmen. Wir brauchen internationale soziale und ökologische Standards, weil sich eine soziale Marktwirtschaft nicht mehr allein national sichern lässt. Wir werden Europa nicht retten, wenn wir nur die Binnenmarktideologie fortschreiben. Wir werden auch niemanden für Europa begeistern, wenn wir nicht das soziale Modell Europa stärken, wirtschaftlichen Erfolg und soziale Sicherheit zusammenbringen.

Aber die Regierung Schröder hat doch zum Beispiel Hedgefonds zugelassen …

Auch wir haben in Teilen dem Druck des neoliberalen „Mainstreams“ zu sehr nachgegeben und sind trotzdem in Davos gescholten worden, dass wir nicht noch mehr liberalisiert, nicht noch mehr Standards abgebaut haben. Übrigens auch von der heutigen Bundeskanzlerin. Angela Merkel ist in Davos jahrelang für den radikalen Marktkurs ihres Leipziger CDU-Programms gefeiert worden. Dieses Programm hat sie zwar selbst geschrieben, will aber heute nichts mehr davon wissen.

Die Kanzlerin will für Frankreichs Präsidenten Nicolas Sarkozy Wahlkampf machen. Wird ihm das helfen?

Offenbar stößt ihre Ankündigung in Frankreich auf ein sehr geteiltes Echo. Grundsätzlich finde ich es aber nicht schlimm, wenn sich Parteivorsitzende in Europa in Wahlkämpfen helfen. Europa ist längst Innenpolitik. Eines war allerdings auch beim Auftritt Angela Merkels in Paris mehr als problematisch: Sie hat dort als deutsche Regierungschefin gesagt, sie könne sich die Zusammenarbeit mit niemandem anderen als Sarkozy vorstellen. Diese Aussage lässt Respekt vor den Regeln der Demokratie vermissen und schadet deutschen Interessen. Natürlich wird sie nach dem Sieg von Francois Hollande mit ihm zusammenarbeiten müssen.

Die Kanzlerin sagte, sie unterstütze Sarkozy, weil er zu ihrer Parteifamilie gehört …

Frau Merkel kümmert sich um ihre Parteifamilie nur dann, wenn es für sie bequem ist. Die finsteren Gesellen in ihrer politischen Nahverwandtschaft übersieht sie gerne. Sonst müsste sie nämlich nach Ungarn fahren und Regierungschef Viktor Orban an die grundlegenden demokratischen Werte erinnern. Der versucht dort gerade, ein autoritäres Regime zu errichten. Oder nach Griechenland, wo es die Schwesterpartei der CDU ist, der es mehr darum ging, den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Papandreou zu stürzen, als Verantwortung zu übernehmen.

Werden Sie Hollande durch Auftritte in seinem Wahlkampf unterstützen?

Natürlich. Ich werde auch in Frankreich dafür werben, dass Francois Hollande gewinnt. Und dass aus dem deutsch-französischen Verhältnis wieder mehr wird als das Schachern um Formelkompromisse und Wahlkampfauftritte.

Hollande will den Fiskalpakt neu verhandeln, kritisiert die Schuldenbremse und will das Renteneintrittsalter senken. Passt das als Programm nicht besser zur deutschen Linkspartei als zur SPD?

Die französischen Sozialisten befürworten eine „goldene Regel“, das ist nichts anderes als eine Schuldenbremse. Ich bin auch der Überzeugung, dass der Fiskalpakt nicht ausreicht. Es fehlt darin eine gemeinsame Steuerpolitik, die Bekämpfung des Steuerdumpings, die Finanztransaktionssteuer, die Investitionen in Wachstum in Europa. Eine reine Sparpolitik in Europa bringt die Länder nicht aus der Krise. Europa muss sich auch um soziale Standards kümmern. Keinem Arbeitnehmer können Sie erklären, dass europäisches Recht eine nationale Regelung verbietet, wonach es für gleiche Arbeit am gleichen Ort auch gleiches Geld geben muss.

Und die Rentenfrage?

Da haben unsere französischen Freunde in der Tat eine andere Auffassung als wir. Das dürfen sie auch.

Herr Gabriel, wann wird das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz gehen?

Nach dem Gesetz im Jahr 2022.

Bis dahin muss rund ein Viertel der Stromerzeugung durch andere Energiequellen ersetzt werden. Kann das gelingen?

Nicht, wenn die Bundesregierung bei der versprochenen Energiewende weiter so versagt, wie sie das im Moment tut. Im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung nicht eine einzige Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Energiewende zu einem Erfolg werden kann.

Ist das Ziel überhaupt noch zu erreichen?

Ja, aber dafür müssen jetzt schleunigst die Weichen richtig gestellt werden. Das Elektrizitätsnetz wird immer instabiler. Eine sichere und übrigens auch bezahlbare Energieversorgung ist aber das Herzkreislaufsystem der deutschen Wirtschaft. Steigende Strompreise würden die im internationalen Wettbewerb stehende Industrie in ihrer Wettbewerbsfähigkeit massiv benachteiligen.

Das würde im Industrieland Deutschland Tausende von Arbeitsplätzen kosten. Ich ahne schon, was passieren wird, wenn das alles in der Merkel-Koalition so weitergeht. In ein paar Jahren wird es dann heißen: „Tut uns leid, aber wir können leider doch nicht wie geplant aus der Atomenergie aussteigen.“ Den zwei Dritteln in CDU/CSU und FDP, die bis heute gegen den Atomausstieg sind, wäre das vermutlich ganz recht. Aber das wäre der Supergau der Energiepolitik.

Was läuft schief bei der Energiewende?

Sehr viel. Ich nenne nur drei Beispiele: In der Bundesregierung kämpfen sechs Ministerien in der Energiepolitik gegeneinander. Niemand hat den Hut auf und niemand besitzt die Steuerungskompetenz. Es gibt weder eine Planung noch ein Controlling über das, was man erreicht hat oder was noch zu tun ist. Zwingend für den Atomausstieg ist die Steigerung der Energieeffizienz bis 2020 um 20 Prozent.

Es ist aber die Bundesregierung, die einerseits in der EU alle Maßnahmen dafür blockiert und in Deutschland das Wärmedämmungsprogramm zusammenstreicht. Letztes Beispiel: Es gibt keine Netzplanung und vor allem keine Planung für die Sicherung der Netzstabilität.

Was muss die Regierung unternehmen, damit Ihre Prophezeiungen nicht eintreffen?

Zuerst muss es eine klare Zuständigkeit innerhalb der Bundesregierung für die Steuerung der Energiewende geben – gebündelt in einem Ministerium. Zweitens müssen alle notwendigen Bereiche, vom Netzausbau über die Planung der Kapazitäten bis hin zu Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz in einem Masterplan verankert und danach konsequent abgearbeitet werden. Jeder muss wissen, wer wann welche Aufgaben zu erfüllen hat.

Drittens muss es ein Controlling der Industriestrompreise geben, damit rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden können, bevor Investoren sich vom Standort Deutschland abwenden. Und dann halte ich es für dringend erforderlich, dass alle gesellschaftlichen Gruppen an diesem großen Projekt beteiligt werden und mit ihren Interessen Gehör finden. Die Ethikkommission hat das bereits vorgeschlagen, und ich unterstütze das.

Es wäre sinnvoll, wenn es im Bundestag, ähnlich dem Wehrbeauftragten, einen Energiebeauftragten gäbe, der eigene Rechte und Berichtspflichten hätte, damit größtmögliche Transparenz und parlamentarische Kontrolle gewährleistet sind. Wir stehen vor einer der größten Herausforderungen unserer Volkswirtschaft und ich fürchte, dieser Regierung ist die Dimension noch immer nicht bewusst.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false