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Ein Land im Schockzustand: Der Doppelanschlag vom Freitag hinterlässt Trauer und Fassungslosigkeit.

© AFP

Terror in Oslo: Die nordische Botschaft

Norwegen ist in den Augen vieler ein Land, das das Gute repräsentiert in einer Welt, von der man annimmt, dass sie krank geworden sei. Sollte die Krankheit übergesprungen sein? Vom 22. Juli, dem Tag, der der schwärzeste der Landesgeschichte werden könnte

Die Grenze, die eigentlich eine unsichtbare ist, die Grenze zwischen Frieden und Gewalt, die nicht überschritten werden darf, jetzt weht an ihr rot-weißes Flatterband. „Politi“, Polizei. Denn einer hat sie am Freitagnachmittag um 15.26 Uhr doch überschritten, er hat sie niedergerissen.

Teile der Innenstadt von Oslo gleichen einer Geisterstadt am Tag danach, an diesem Samstag, an dem sonst die Menschen unterwegs sind. Das Militär wurde gerufen, die Absperrungen rund um das Regierungsviertel zu sichern, hinter denen Kriminalisten weiterhin Spuren suchen und Handwerker mit ersten Reparaturen anfangen. In schlammgrünen Uniformen stehen die Soldaten in ihrer eigenen, vom Terror heimgesuchten Hauptstadt, die Gewehre im Anschlag. Und neben ihnen stehen Osloer in Badelatschen und schauen in die menschenleeren Straßenzüge hinein, in denen Splitter liegen, Türen, die aus ihren Verankerungen gerissen sind, in denen Blutspuren zu sehen sind. Blut von Menschen.

An anderen Stellen ist aber schon wieder normaler Betrieb, Radler radeln, Shopper shoppen, Spaziergänger spazieren. Die Lage sei stabil, nicht länger chaotisch, lässt der Polizeichef mitteilen. Und in der Rathusgata empfängt der konservative Osloer Bürgermeister Fabian Stang, Jahrgang 1955, Journalisten. Draußen vor der Rathaustür steht überall Polizei. Der Respekt vor den Toten gebiete es, sagt Stang, die Stadt „noch sicherer und offener“ zu gestalten und den Umgang miteinander noch respektvoller.

Der Knall, der das Osloer Regierungsviertel erschütterte, und die Schüsse auf der Fjordinsel Utöya, die 92 Opfer dieses 22. Juli 2011 ließen auch das norwegische Selbstbild in Rauch aufgehen.

Die Norweger sehen sich als Erben des 1930 gestorbenen Humanisten Fridtjof Nansen, der die großen Hilfsaktionen in der Sowjetunion nach dem Ersten Weltkrieg organisierte und Millionen Menschen vor dem Hungertod rettete. Und Alfred Nobel war zwar Schwede, aber in seinem Testament überließ er es den Norwegern, den Friedensnobelpreis zu vergeben. Diese Aufgabe traute er seinen eigenen Landsleuten nicht zu. Die Norweger sollten es tun, weil sie so friedlich sind.

Norwegen, das viele Jahrhunderte unter der dänischen oder schwedischen Krone stand, hat als Nation nie einen Krieg geführt. Es wurde tatsächlich kein Krieg mehr von Norwegen geführt, seit die Wikinger nicht mehr segeln. Die Nation wurde 1940 von Nazi-Deutschland besetzt und fünf Jahre lang unterdrückt, denn die Norweger zeigten sich auch in dieser Situation nicht als große Krieger.

Erst nach 1945 wurde mit den eigenen Kollaborateuren radikal abgerechnet. Nicht nur wurden sie vor ein Gericht gestellt und verurteilt, sondern ein Großteil von ihnen wurde für ihr gesamtes Leben als Unbelehrbare stigmatisiert.

Rassismus und Rechtsradikalismus sind seitdem mit Betrug und Vaterlandsverrat verbunden. Und wie jedes Jahr fahren auch in 2011 bis zu 20 000 norwegische Schulkinder für eine Woche im Bus durch Polen und Deutschland von einem ehemaligen Konzentrationslager zum nächsten. So sollen sie schon im jungen Alter gegen Rassismus geimpft werden.

Wie also konnte geschehen, was geschah? Was trieb den mutmaßlichen Täter, den 32-jährigen Anders Behring Breivik an? Was lässt einen jungen Norweger losgehen und Menschen ermorden, die er als politische Feinde wahrnahm?

Auf diese Frage kann bisher kaum jemand eine vernünftige Antwort geben.

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Mord war nie Bestandteil des politischen Lebens in Norwegen. Bomben und Maschinenpistolen wurden stets nur als ein Argument einer ganz anderen Welt wahrgenommen, einer bösen, einer Welt weit jenseits der eigenen Grenzen.

Auf Facebook und Twitter war die Volksmeinung schnell dabei, muslimische Extremisten für die Anschläge verantwortlich zu machen. Die Polizei und verantwortlichere unter den Politiker allerdings hielten sich zunächst zurück, wie auch die norwegische Presse. Vielleicht, weil zu schrecklich wäre, was die Folge sein könnte? Denn: Sollte dieses Verbrechen von einem muslimischen Migranten, der in Norwegen aufgewachsen war, verübt worden sein, hätte die Tat zu einer Katastrophe für die vielen Einwanderer im Land werden können. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums nämlich wird schon jahrelang den Einwanderern gegenüber ein überaus scharfer Ton angeschlagen. Ein muslimischer Täter – das wäre Öl im Feuerchen all jener Populisten gewesen.

Es zeigte sich am Freitag allerdings auch, dass die Behörden nicht auf Terror in diesem Ausmaß vorbereitet waren. So soll das angeforderte Sonderkommando mehr als eine halbe Stunde gebraucht haben, bis es nach dem ersten Notruf von der Insel dort angekommen war. Möglicherweise Zeichen von Überforderung, denn gleichzeitig musste die Polizei die Hauptstadt abriegeln und Regierungsmitglieder in Sicherheit bringen, weil man zunächst nicht ausschließen konnte, dass weitere Bomben explodieren würden. Erst am Samstag wurde den meisten Norwegern bewusst, dass sich der wirkliche Alptraum auf der idyllischen Fjordinsel zugetragen hatte und die Bombe in Oslo, trotz ihrer verheerenden Kraft, vermutlich ein Ablenkungsmanöver war.

Die Osloer waren am Freitagabend aufgerufen, zuhause zu bleiben, und die meisten hielten sich auch am Folgetag daran. Sie blieben zuhause und verfolgten im Fernsehen, wie die Anzahl der Toten auf der Insel Utöya bis ins Unfassbare nach oben korrigiert wurde.

Während der Bombenanschlag in Oslo mindestens sieben Tote und unzählige Verletzte forderte, wurden auf Utöya bis zur Mittagszeit am Samstag 84 Tote registriert. Es waren vor allem Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren.

Sie waren auf diese kleine kiefernbewachsene Insel, die sich grün aus dem Tyrifjord-See erhebt, gekommen, um ein Sommerlager der AUF zu besuchen, der sozialdemokratischen Jugendorganisation. Der Jugendorganisation der Partei des Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg also. Am Donnerstag war dort der Außenminister Jonas Gahr Störe bei strahlendem Sonnenschein zu Besuch gewesen, und für diesen Samstag war Stoltenberg angemeldet. Der war früher selber Jahr um Jahr nach Utöya gereist, in eben dieses Lager. Am Samstag sagte er bei einer Pressekonferenz im Örtchen Sundvolden am Ufer des Tyrifjord-Sees: „Utöya war mein Jugendparadies. Gestern wurde es in eine Hölle verwandelt.“

Und die Hölle ist vorerst nicht mehr zu betreten. Allein Polizei und Rettungskräfte haben auf der Insel noch Zutritt. Überall auf dem See sieht man deren orangerote Schlauchboote leuchten.

Stoltenberg war am Vormittag aus dem 40 Kilometer entfernten Oslo angereist. Denselben Weg hatte am Freitag auch der Attentäter genommen: Gut anderthalb Stunden, nachdem in der Osloer Innenstadt die Bombe explodiert war, rollte ein silberfarbener Wagen ans Festlandufer. Ein Mann in Polizeiuniform stieg aus und zeigte seinen Ausweis. Er sagte, er sei geschickt worden, um die Sicherheit zu überprüfen. Dass das eine reine Routine sei nach dem Terroranschlag in Oslo. So schilderte es ein Wachmann gegenüber der Tageszeitung „Verdens Gang“. Das habe alles einen normalen Eindruck gemacht. Also rief man ein Boot, das den Polizisten hinüber brachte nach Utöya. Minuten später hörten sie am Festlandufer Schüsse. Schüsse und Schreie.

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Auf der Insel hatte der Polizist, der keiner war, die Jugendlichen zu sich gerufen, sie sollten alle zusammen kommen, er habe wichtige Nachrichten. „Kommt zu mir, kommt zu mir, es besteht keine Gefahr“, soll er gesagt haben, und als ihm die jungen Leute dann in Scharen entgegenkamen, schoss er. Rein in die Menge. Und jubelte und schrie: „Ich bringe euch alle um. Alle müssen sterben.“

Am anderen Ufer hörten sie die Schüsse, die Schreie, sie sahen die jungen Leute ans Ufer laufen, winken, ins Wasser springen. Sie machten ihre Boote flott und fuhren ihnen entgegen, zogen sie aus dem Wasser. Ob sie alle erreichten? Vier oder fünf Jugendliche werden noch vermisst. Sind sie ertrunken beim Versuch weg zu schwimmen von der Todesinsel?

Die Angehörigen sind am Freitag und am Samstag zum See gekommen. Im Hotel Sundvolden fuhren ihre Autos vor, alle kamen sie die eine Straße entlang, die hierher führt, eine Straße von Campingplätzen gesäumt, von Wald und Wiese. Falls sie ihre Radios eingeschaltet hatten, haben sie von nur einem Thema gehört: dem Attentat. Ärztliche Betreuer sind auch in Sundvolden und Seelsorger.

„Lassen Sie sich von schneebedeckten Bergen und tiefblauen Fjorden inspirieren und zu neuem, kreativen Denken anregen – genauso, wie es damals Asbjørnsen und Moe getan haben“, wirbt das Hotel für sich. Asbjørnsen und Moe, die norwegischen Gebrüder Grimm, Sammler nordischer Märchen, die manchmal schrecklich sind, aber immer gut enden. Anders als die Geschichten der wirklichen Welt.

92 Menschen sind tot. Und mutmaßlich ist Anders Behring Breiviks daran schuld. Er ließ sich gefangen nehmen, freiwillig auf der Insel, gestand der Polizei gegenüber, als sei es sein Plan gewesen, zum Helden der rechtsextremen Norweger zu werden. Doch es gibt von denen wenige. Die rechtspopulistische Fortschrittspartei, die in Umfragen zwischen 20 und 30 Prozent Unterstützung erhält, hat es immer geschafft, ihre Rassisten unter Kontrolle zu halten. Breivik ist zwar passives Mitglied dieser Partei, doch gilt es als kaum denkbar, dass von dieser die Argumente für seine Attentate stammen.

Norwegen ist ein kleines Land, 4,5 Millionen Einwohner verteilen sich auf dem schmalen Streifen, der sich die skandinavische Westküste hinaufzieht, knapp zwei Millionen von ihnen leben in und um Oslo. So kommt es, dass jeder jeden irgendwie kennt. Das gilt nicht nur für den Ministerpräsidenten, der etliche der Opfer des Massakers und deren Familien persönlich kannte. Das gilt auch für viele andere Bürger des Landes.

Der 22. Juli wird der schwärzeste Tag in der norwegischen Geschichte. Viele sagen schon voraus, dass Norwegen nun nicht mehr dasselbe Land bleibe. Mit der offenen Gesellschaft werde es vorbei sein, der Ministerpräsident oder der Kronprinz könnten nicht mehr ohne Leibwächter an einem Samstagvormittag durch die Stadt laufen. Bewachung werde in den öffentlichen Gebäuden gestärkt. Aber wie weit kann man gehen? Es ist so oder so nicht möglich, sämtliche Autos zu kontrollieren, ob sie nicht mit Bomben unterwegs sind. Und es ist kaum vorstellbar, dass die Teilnehmer von Jugendlagern von bewaffneten Polizisten beschützt werden müssen.

Erst wenn die Opfer beerdigt worden sind, werden die Norweger bereit sein, die Folgen der Tat für die künftige Gesellschaft zu diskutieren. Um Anders Behring Breivik und seinen Gesinnungsgenossen ein Signal zu geben, könnte es gut sein, dass die Sozialdemokraten ein gutes Ergebnis bei den Kommunalwahlen Anfang September erzielen. Ein besseres jedenfalls, als bis Freitag in Aussicht stand.

Es muss untersucht werden, wie es zu dieser Tat kommen konnte, woher Breivik seine hasserfüllten Ideen hatte.

Anders Behring Breivik, 32, Bewohner eines Landes, das reich ist und kaum Arbeitslosigkeit hat, eines Märchenlandes, das für Frieden und Freundlichkeit steht. Und das in den Augen der Anderen das Gute repräsentiert in einer Welt, von der man annimmt, dass sie krank geworden sei. Sollte die Krankheit auf Norwegen übergesprungen sein?

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