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Der stellvertretende türkische Ministerpräsident Mehmet Şimşek bei einem Gespräch mit deutschen Journalisten in Istanbul.

© Kevin P. Hoffmann

Türkei auf dem Weg zum Präsidialsystem: Vize-Premier bittet Westen um Verständnis

Mehmet Şimşek kündigt zwar einen baldigen Entwurf für ein Präsidialsystem an. Die Todesstrafe soll jedoch unabhängig davon abgestimmt werden. Kritik an Europa hat er trotzdem mehr als genug.

Die türkische Regierung treibt den Umbau des Staates zu einem Präsidialsystem voran und wirbt bei den EU-Staaten um Verständnis für entsprechende juristischen Schritte. Die Pläne könnten Diplomaten in einigen Punkten als Entgegenkommen auf Kritiker aus dem Westen verstehen. Zugleich warf ein hochrangiges Regierungsmitglied dem Westen am Dienstagabend „mangelnde Solidarität“ vor.

Der stellvertretende Ministerpräsident Mehmet Şimşek kündigte in einem Gespräch mit deutschen Journalisten in Istanbul an, dass die Regierung in etwa zwei Wochen einen Gesetzentwurf zum Umbau des Staates vorlegen wolle. Dieser werde dem Staatspräsidenten deutlich mehr Befugnisse als bisher einräumen, zugleich aber auch die Kontrollmöglichkeiten durch Verfassungsorgane stärken. Şimşek verwies auf das Prinzip der „checks and balances“ in den USA und auf die Präsidialdemokratie in Frankreich.

Zudem stellte er die Abschaffung der umstrittenen Zehn-Prozent-Hürde im Parlament in Aussicht. „Sobald wir den Gesetzentwurf intern fertig abgestimmt haben, in etwa zwei Wochen, werden wir uns ausführlich Zeit nehmen, diesen im Parlament zu beraten“, sagte der Minister. Er schloss aus, dass es die nötigen 60 Tage Beratungen im Parlament oder ein Referendum über diese Frage geben werde, noch während der Ausnahmezustand im Land herrsche. 

Dieser war in Folge des Putschversuches am 15. Juli verhängt worden und wurde im Oktober bis zum 15. Januar verlängert. Er gibt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan weitreichende Möglichkeiten bei der Strafverfolgung und der Kontrolle der Öffentlichkeit. Laut Şimşek könne Ende März über die Verfassungsreform abgestimmt werden. „Dann können wir hoffentlich wieder zum Normalzustand zurückkehren“, sagte der Minister.

Auf Nachfrage schloss Simsek kategorisch aus, dass die Regierung das geplante Referendum über die Einführung der Todesstrafe an die Reform zum Präsidialsystem koppeln wird. Das war von Kritikern befürchtet worden, da laut Umfragen eine Mehrheit für die Todesstrafe als denkbar gilt. "Das Thema Todesstrafe steht gerade nicht auf der Agenda", behauptete Simsek. 

Zudem kündigte er an, dass die Regierung allen Vorwürfen, es gebe Folter an Mitgliedern der Gülen-Bewegung, nachgehen werde. Folter sei absolut verboten. "Wir sind ein Rechtsstaat."

Şimşek beklagt "zu wenig Empathie" der EU-Mitglieder

Mehmet Şimşek ist, wie alle 26 Minister im Kabinett von Binali Yildirim, Mitglied der Partei AKP von Präsident Erdogan. Er ist in der Türkei der wohl bekannteste der fünf stellvertretenden Ministerpräsidenten, er gilt als „Superminister“ für alle Finanz- und Wirtschaftsfragen und aufgrund seiner langjährigen Ausbildung und Arbeit in England - unter anderem für die Banken Merrill Lynch und Deutsche Bank -, als westlich-orientiert und relativ einflussreich. Zudem soll Şimşek als Integrationsfigur für die Kurden gelten. Er bezeichnete sich selbst am Dienstag als „ethnischen Kurden“. Seine Eltern seien Analphabeten gewesen. „Nachdem ich zum Studium nach Ankara gekommen war, habe ich mir nicht vorstellen können, dass sich die Lage für Kurden so stark verbessern könnte“, sagte er den deutschen Medienvertretern in einem Hotel in der türkischen Metropole. Aber der Fortschritt werde im Westen nicht wahrgenommen.

Er sprach von zwei „Traumata“ der jüngeren Vergangenheit für sein Land, bei denen die EU-Mitglieder „zu wenig Empathie“ gezeigt hätten. Das erste betreffe den Umstand, dass Kämpfer und Parteien der kurdischen Organisation PKK nach Jahren des von Erdogan eingeleiteten Friedensprozesses wieder begonnen hätten, die Kontrolle über Provinzen im Südosten des Landes zu übernehmen. „Dabei hat die PKK deutlich gemacht, dass sie keine Autonomie anstrebt, sondern Teile aus dem Staatsgebiet reißen wollen“. Das zweite Trauma sei der Putsch von Anhängern des Predigers Fethullah Gülen, welche Şimşek konsequent als „Feto“ (Fethullah Terrorist Organisation) bezeichnete. Mit Blick auf die neuerdings ruhenden EU-Beitrittsverhandlungen sagte der stellvertretende Ministerpräsident: „Gebt der Türkei eine starke Perspektive! So wie den Ländern Osteuropas nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion“.

Ein Hinweis und Nachtrag in eigener Sache, da es Anfragen an die Redaktion zu den Umständen der Recherche gab: Die Recherchereise wurde im Auftrag der türkischen Standortförderagentur ISPAT von einer Hamburger Agentur organisiert, die Redaktion des Tagesspiegels hat einen Großteil der Kosten selbst getragen.

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