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© dpa

Türkei: "Das kann kein Zufall sein“

Die Anschläge in Istanbul und das AKP-Verbotsverfahren: Die Täter wollen offenbar die Türkei ins Chaos stürzen. Premierminister Erdogan ruft die Bürger zur Ruhe auf.

Terror und Gewalt unmittelbar vor entscheidenden politischen Ereignissen – dieses blutige Muster wiederholt sich in der Türkei mit grausamer Regelmäßigkeit. „Es ist immer dasselbe“, schrieb der Kolumnist Hasan Cemal am Dienstag in der Zeitung „Milliyet“: An bedeutsamen Wegscheiden des Landes versuchten politische Extremisten stets, die Spannung noch weiter zu erhöhen. Wie die meisten Türken glaubt Cemal nicht daran, dass es reiner Zufall war, dass ausgerechnet am Vorabend der entscheidenden Phase im Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP in Istanbul 17 Menschen bei einem Bombenanschlag starben. Auch Recep Tayyip Erdogan glaubt nicht an Zufall. Der Zeitpunkt des Anschlags werde für die Polizei ein wichtiger Hinweis sein, sagte der Ministerpräsident am Dienstag: „Terror braucht Spannungen – und unsere Aufgabe ist es, jenes Klima zu ändern, das den Terror nährt.“

Während die Ermittler in Istanbul nach einem Verdächtigen fahndeten und die Überreste der beiden Bomben untersuchten, die im Stadtteil Güngören gezündet worden waren, setzte das Verfassungsgericht in Ankara seine Beratungen über ein Verbot von Erdogans AKP fort. Nach insgesamt mehr als 15-stündigen Beratungen von Montagmorgen bis Dienstagnachmittag war noch kein Ergebnis absehbar. Die meisten Beobachter rechnen aber mit einer Entscheidung noch in dieser Woche. Als wahrscheinlichster Ausgang des Verfahrens gilt eine Auflösung der AKP, die von ihren Gegnern als Islamistentruppe verteufelt wird. Zu diesen Gegnern gehören auch acht der elf Verfassungsrichter.

Ein Verbot der AKP würde zu vorgezogenen Neuwahlen führen, die bereits im Oktober oder November stattfinden könnten. Erdogan bastelt nach Presseberichten bereits seit langem an der Gründung einer neuen Partei, die als Rettungsboot für die AKP-Wähler dienen könnte. Selbst wenn das Verfassungsgericht den Premier – wie von der Anklage verlangt – für fünf Jahre aus der Parteipolitik verbannt, könnte Erdogan voraussichtlich als unabhängiger Abgeordneter erneut ins Parlament einziehen und dort auch eine neue Regierung führen.

Dennoch wäre es mit der innenpolitischen Stabilität der Türkei, die in den vergangenen Jahren viele Reformen auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene ermöglichte, erst einmal vorbei. An entscheidende Fortschritte im EU-Beitrittsprozess wäre bei einem AKP-Verbot und den dann anstehenden Neuwahlen mindestens ein halbes Jahr lang nicht einmal zu denken. Dies könnte unter anderem die Hoffnungen auf eine Friedenslösung im geteilten Zypern dämpfen – denn ohne eine voll handlungsfähige Regierung in Ankara sind Zugeständnisse der türkischen Seite in den Anfang September beginnenden Zypernverhandlungen kaum denkbar.

Doch gerade die Tatsache, dass die Türkei seit langem an Wellen der politischen Gewalt gewohnt ist, könnte es den Extremisten schwer machen, ihre Ziele zu erreichen: So leicht lassen sich die Türken nicht aus der Ruhe bringen. Am Dienstag war nicht erkennbar, dass der Anschlag von Istanbul unmittelbare politische Folgen haben könnte. Weder gab es Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden noch ließen die Reaktionen Erdogans oder führender Oppositionspolitiker auf wachsende Spannungen in Ankara schließen. Optimisten wie Kolumnist Cemal sahen darin sogar einen Hoffnungsschimmer: „Am Ende wird die Türkei eine Demokratie erster Güte besitzen.“

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