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Türkei: Erdogan-Herausforderer: Der "Gandhi" von Ankara

Seine Anhänger nennen ihn "Gandhi": Im kommenden Jahr wird Kilicdaroglu der Herausforderer von Ministerpräsident Erdogan bei den Parlamentswahlen in der Türkei sein. Die EU kritisiert auch er.

Hohe Stirn, runde Nickelbrille, Aktenkoffer: Kemal Kilicdaroglu wirkt so trocken und uncharismatisch wie der Finanzbeamte, der er einmal war. Und doch ruhen auf dem 61-jährigen die Hoffnungen der türkischen Linken. Seit dem Wochenende steht Kilicdaroglu, der wegen seines Aussehens und seiner persönlichen Bescheidenheit von seinen Anhängern "Gandhi" genannt wird, an der Spitze der größten Oppositionspartei des Landes, der CHP. "Gandhi" will die zu einer nationalistischen Neinsager-Partei verknöcherten CHP wieder sozialdemokratischer, volksnäher und erfolgreicher machen. Bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr wird Kilicdaroglu der Herausforderer von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sein - und so mancher Beobachter gibt ihm gute Chancen, Erdogan und dessen AKP von der Macht zu verdrängen.

Der aus dem ostanatolischen Tunceli stammende Kilicdaroglu galt schon lange als Kronprinz in der CHP. Im Parlament von Ankara hat er sich als aktensicherer Korruptionsbekämpfer einen Namen gemacht, der den ein oder anderen AKP-Politiker zum Rücktritt zwang. Seine Chance auf den Parteivorsitz kam, als der unpopuläre CHP-Chef Deniz Baykal kürzlich über eine Sex-Affäre stolperte, die nach Meinung vieler Beobachter von innerparteilichen Gegnern Baykals an die Öffentlichkeit gebracht wurde

So konnte sich Kilicdaroglu beim Parteitag am Wochenende in Ankara zum neuen Chef wählen lassen und enge Gefolgsleute in die Parteiführung hieven. Das Treffen glich einer Krönungsmesse: Die meisten CHP-Politiker sind erleichtert über Baykals Abgang.

Der neue Vorsitzende versprach mehr innerparteiliche Demokratie und deutete an, er wolle sich lösen von der Fundamentalopposition seines Vorgängers, der reflexhaft alle Regierungsentscheidungen ablehnte und in mehreren Dutzend Fällen zum Verfassungsgericht lief. Schon vor dem Parteitag lobte Kilicdaroglu ausdrücklich die jüngste Initiative Erdogans im iranischen Atomstreit.

Gleichzeitig kündigte Kilicdaroglu an, sich für die Belange der kleinen Leute einzusetzen. Unter Baykal hatte die CHP ihre sozialdemokratische Ausrichtung fast völlig aufgegeben und war zu einer Interessensvertretung der türkischen Besitzstandswahrer erstarrt, die sich gegen demokratische Reformen wehren: der Militärs, der Bürokratie und der hohen Justiz. Der neue CHP-Chef sagte, er werde türkische Normalbürger auf den Feldern und in den Fabriken besuchen.

"Ich bin bereit", rief Kilicdaroglu den Delegierten des Parteitags zu. "Der Wettkampf um die Macht hat begonnen" Umfragen zufolge kann die CHP mit einem beträchtlichen Stimmenzuwachs rechnen, wenn sie sich einen weltoffeneren und reformerischen Kurs verpasst. Die AKP wirkt nach fast acht Jahren an der Macht verbraucht, Erdogan selbst zeigt immer häufiger monarchische Züge. Bisher fehlte den Wählern der politischen Mitte die Alternative zur AKP - das könnte sich nun ändern. Eine kurz vor Kilicdaroglus Wahl veröffentlichte Umfrage sieht die CHP bei etwa 32 Prozent der Stimmen und damit etwa gleichauf mit der AKP.

Auf Wahlerfolge hoffen kann Kilicdaroglu aber nur, wenn er glaubwürdig bleibt und die CHP tatsächlich verändert. Schon höhnt die Presse, der selbst ernannte Arbeiterführer Kilicdaroglu habe beim Parteitag ein Hemd einer italienischen Edelmarke für umgerechnet rund 250 Euro getragen – für diese Summe müssen viele Türken einen ganzen Monat lang arbeiten.

Auch was die grundsätzliche Ausrichtung seiner Partei angeht, steht Kilicdaroglu unter Beobachtung. Viele Beobachter glauben, dass er die CHP aus ihrer eingefahrenen Rolle als Interessensvertreterin der türkischen Reformverweigerer lösen muss, wenn er für seine Partei neue Wählerschichten erschließen will.

Ob der neue CHP-Chef den Mut und die Kraft dazu hat, ist keinesfalls sicher. Die unabhängige Zeitung "Taraf" notierte, Kilicdaroglu habe beim Parteitag die CHP-Kritik am juristischen Vorgehen gegen die so genannte Ergenekon-Organisation bekräftigt, einer mutmaßlichen nationalistischen Untergrundgruppe aus Militärs und zivilen Helfern, die einen Putsch gegen Erdogan geplant haben soll. Auch macht Kilicdaroglu keine Anstalten, die CHP-Verfassungsklage gegen das jüngste Reformpaket der Regierung zurückzuziehen, das von der EU ausdrücklich gelobt wurde.

Überhaupt blieb Kilicdaroglu zumindest auf dem Parteitag beim Thema EU der nationalistischen Linie Baykals treu: Die Türkei sei ein stolzes Land und werde die "Heuchelei" der Europäer in der Diskussion über einen türkischen Beitritt nicht akzeptieren, sagte er. Ein Bekenntnis zu konkreten politischen Reformen enthielt seine Rede nicht.

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