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Türkei: Erdogan will türkische Armee an die Kette legen

Nie zuvor standen die türkischen Militärs in der Öffentlichkeit so mit dem Rücken an der Wand. Jetzt will Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Gelegenheit nutzen, um die politischen Machtbefugnisse der Armee weiter einzuschränken.

Die Zeiten sind auch für die machtgewohnten türkischen Militärs nicht mehr das, was sie einmal waren. Eine kürzliche Umfrage ergab, das rund 63 Prozent der türkischen Wähler der Armee vertrauen – eine satte Mehrheit, doch in den Vorjahren lag dieser Prozentsatz bei über 90 Prozent. Eine ganze Serie von Berichten über Putschvorbereitungen durch Offiziere haben das Image der Streitkräfte ebenso beschädigt wie der Eindruck, dass die Armeeführung nicht in der Lage ist, die Umtriebe zu beenden. Generalstabschef Ilker Basbug sah sich erst vor wenigen Tagen genötigt, sich im Namen der Armee öffentlich zur Demokratie und zum Prinzip des Machtwechsels durch Wahlen zu bekennen.

Nie zuvor standen die türkischen Militärs in der Öffentlichkeit so mit dem Rücken an der Wand. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will die Gelegenheit nutzen, um die politischen Machtbefugnisse der Armee weiter einzuschränken. Er kündigte die Abschaffung des so genannten Emasya-Protokolls an, das den Streitkräften das Recht gibt, auf eigene Faust und ohne Anweisung der zivilen Behörden bei innenpolitischen Krisen einzugreifen. Der Premier strebt zudem einen Konsens zur Änderung des Armeegesetzes an, das die legale Grundlage für den letzten Militärputsch von 1980 bildete. Die EU dürfte diese Pläne begrüßen.

Vier Regierungen haben die türkischen Streitkräfte seit 1960 von der Macht verdrängt, und so mancher Offizier würde offenbar auch gerne die religiös-konservative Regierung Erdogan stürzen. Der fromme Muslim Erdogan ist aus der Sicht vieler in der strikt säkulären Armee ein islamischer Fundamentalist, der aus der Türkei einen Gottesstaat machen will.

Besonders geheim sind diese Ansichten der Armee nicht. Von 2003 bis 2006 benutzten Offiziere bei Kriegsspielen während der Ausbildung ein Szenarium namens „Vorschlaghammer“, das Erdogans Entmachtung und die Internierung zehntausender „Staatsfeinde“ vorsah. Es gab noch eine Handvoll weitere Putschpläne, die allesamt derzeit von der zivilen Justiz untersucht werden. Mehrere Dutzend Angeklagte, darunter ehemalige Generäle, müssen sich zudem als mutmaßliche Mitglieder des Geheimbundes „Ergenekon“ vor Gericht verantworten. „Ergenekon“ plante laut Staatsanwaltschaft ebenfalls den bewaffneten Umsturz.

Regierungskritiker sagen zwar, dass die angeblichen Putschpläne in Wirklichkeit von Erdogans Truppe fabriziert wurden, um die Armee in der Öffentlichkeit anzuschwärzen. Doch eine solche Verschwörung müsste weite Teile der an sich Erdogan-feindlichen türkischen Justiz umfassen, was unwahrscheinlich ist.

Die Tatsache, dass die Armee wegen der Putschpläne am öffentlichen Pranger steht, zeigt vor allem, wie sehr sich die Türkei verändert hat. Die Öffentlichkeit will keine Staatsstreiche mehr. Als die Armee vor knapp drei Jahren mit einem Putsch gegen Erdogan drohte, rief der Premier vorgezogene Neuwahlen aus, die er mit fast 50 Prozent der Wählerstimmen gewann. Dieser Denkzettel machte den Militärs klar, dass ein Staatsstreich das Volk gegen die Armee aufbringen würde – eine völlig neue Situation für die Generäle. Zudem wissen Basbug und andere hohe Militärs, dass sich die Rolle der Armee ändern muss, wenn die Türkei eine Chance auf Aufnahme in die EU haben will.

Erdogan will den Wandlungsprozess der Militärs vorantreiben, ohne die Armee zu provozieren. Das sehr gute persönliche Verhältnis des Premiers zu Armeechef Basbug ist dabei von Nutzen. „Wir spielen uns ganz gut die Bälle zu,“ sagte der Premier jetzt in einem Fernsehinterview. Türkische Säkularisten, die das Militär als Bollwerk gegen den angeblichen Islamisten Erdogan ansehen, sind entsetzt.

Mit allem kann sich Erdogan bei den Militärs aber nicht durchsetzen. Im Fernsehen berichtete der Premier, wie er sich vor zwei Jahren bei der damaligen Armeeführung beschwerte, weil seine Ehefrau Emine wegen ihres islamischen Kopftuchs auf einen Krankenbesuch in einer Militärklinik in Ankara verzichten musste. „Wo gibt’s denn sowas?“ habe er die Militärs gefragt, sagte Erdogan. Das Kopftuchverbot besteht noch heute.

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