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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.

© AFP

Türkei und die Todesstrafe: Erdogan pfeift auf die Meinung der EU

Von wegen EU-Beitritt: Die Debatte um die Todesstrafe in der Türkei zeigt, dass sich Präsident Erdogan nicht um die Reaktion der EU schert. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Susanne Güsten

Nicht zum ersten Mal schickt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sich aus innenpolitischen Motiven heraus an, wichtige EU- Normen über Bord zu werfen. Vor der Aufnahme der Beitrittsgespräche im vergangenen Jahrzehnt hatte Erdogan plötzlich überlegt, Ehebruch unter Strafe zu stellen. Er warb damit um die Unterstützung konservativer Kreise, ließ das Vorhaben zur Bestrafung von Ehebrechern aber bald wieder in der Schublade verschwinden.

Zurzeit redet Erdogan von der Wiedereinführung der Todesstrafe, die er möglicherweise mit der 2017 geplanten Volksabstimmung über das von ihm angestrebte Präsidialsystem koppeln will. Auch diesmal geht es ihm um die Stimmen rechtskonservativer Türken – doch die Folgen des Manövers dürften wesentlich weitreichender sein. Mit der Rückkehr zur Todesstrafe riskiert Erdogan den Rauswurf seines Landes aus dem Europarat und den Abbruch der EU-Beitrittsgespräche.

Ähnliches gilt für das jüngste Vorgehen gegen die Oppositionspresse. Die Festnahmen und Durchsuchungen bei der Zeitung „Cumhuriyet“ am Montag zeigen, dass Erdogan keinen Widerspruch mehr duldet. Seine Helfer in der Justiz schrecken nicht vor lächerlichen und absurden Begründungen zurück, um Gegner des Präsidenten aus dem Verkehr zu ziehen.

Ausgerechnet „Cumhuriyet“, das Bollwerk des Säkularismus, soll den islamischen Prediger Fethullah Gülen unterstützt haben. In einer normalen Demokratie würde ein solches Vorgehen der Behörden selbst zu einem Fall für die Justiz; in der Türkei reibt sich stattdessen die Erdogan-treue Presse die Hände und wirft „Cumhuriyet“ vor, mit Staatsfeinden gemeinsame Sache gemacht zu haben. Es findet sich bestimmt ein Richter, der den festgenommenen Journalisten den Prozess macht.

Immer offenere Abkehr vom Rechtsstaat

Die Reaktion Europas auf die immer offenere Abkehr vom Rechtsstaat ist Erdogan egal. Er glaubt sich sicher, dass die Europäer und die USA sein Land mehr brauchen als umgekehrt – wegen der Flüchtlingskrise und wegen des Kampfes gegen den Islamischen Staat (IS). Die Türkei wandelt sich ohnehin immer mehr zu einem Einparteien-Staat, in dem Dissens kaum noch geduldet wird und in dem das Wort des Präsidenten Gesetz ist.

Gut möglich, dass Erdogan sein Ziel erreicht und sich im Jahr 2017 zum Alleinherrscher ausrufen lassen kann. Allerdings wirft der einst als Reformer gefeierte Erdogan sein Land damit um Jahrzehnte zurück. Ansätze für eine pluralistische Gesellschaft werden erstickt, die Opposition wird verfolgt, Probleme wie der Kurdenkonflikt werden als reines Sicherheitsproblem bekämpft. Institutionen wie die Justiz, die ein Funktionieren der Republik unabhängig von den politischen Machtverhältnissen garantieren sollen, werden in dem Maße geschwächt, wie die persönliche Macht Erdogans weiter wächst.

Es ist möglich, dass Erdogan die Todesstrafen-Debatte wie den Ehebruch instrumentalisieren will, ohne das Projekt tatsächlich zu verwirklichen, möglich auch, dass es die Vorwürfe gegen „Cumhuriyet“ fallen gelassen werden. Doch es könnte zu spät sein, um in Europa noch jemanden zu überzeugen. Die zwischenzeitlich mit großer Leidenschaft geführte Diskussion über einen Beitritt des großen muslimischen Landes hat sich jedenfalls erst einmal erledigt.

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