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Türkei: Wählen, wählen und nochmals wählen

Nach der Ankündigung von Neuwahlen atmet die Türkei auf - und auch Premier Erdogan kann sich mit dem vorzeitigen Urnengang abfinden. Er plant zudem umfangreiche Verfassungsänderungen, um ein ähnliches Chaos künftig auszuschließen.

Istanbul - Nachdem das Verfassungsgericht in Ankara einen Ausweg aus der Staatskrise gewiesen hat, blickt die Türkei wieder nach vorn. Die Hochspannung der vergangenen Tage - so zumindest sahen es viele türkische Kommentatoren - ist einem Aufatmen gewichen. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts habe alle erleichtert. "Das Urteil spiegelt den Pulsschlag der großen Mehrheit der Gesellschaft wieder", schrieb ein Kolumnist der linksliberalen Zeitung "Milliyet". "Eine Neuwahl wird die vergiftete Luft wie ein Frühlingsregen reinigen."

Nach der Annullierung des ersten Wahlgangs durch die Verfassungsrichter ist Außenminister Abdullah Gül, der nach dem Willen der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP zum neuen Staatspräsidenten gewählt werden soll, noch immer Kandidat. Doch über die Wahl des Präsidenten, die eine Konfrontation zwischen Armee und Regierung heraufbeschworen und das Land in die schwerste politische Krise der vergangenen Jahre gestürzt hat, wird kaum noch gesprochen. Die nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts fällige Wiederholung des ersten Wahlgangs, die auf Sonntag verlegt wurde, gilt politischen Beobachtern als reine Formsache - ohne Aussicht auf Erfolg.

Präsident nur im Konsens

Mit der Forderung, dass für eine gültige Abstimmung mindestens zwei Drittel der Abgeordneten anwesend sein müssen, hat das Gericht die Latte für die Wahl des Staatspräsidenten so hoch gehängt, dass künftig kaum noch eine Partei ihren Kandidaten durchbringen kann - es sei denn im Konsens mit der Opposition. Das dürfte auch dem Militär vorgeschwebt haben, als Generalstabschef Yasar Büyükanit einen Präsidenten verlangt hatte, der "nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten" für die in der Verfassung festgeschriebene Trennung von Staat und Religion eintrete.

Wer angenommen hat, Erdogan werde sich nach der Niederlage, die ihm das Gericht zugefügt hatte, in die Schmollecke zurückziehen, sah sich getäuscht. Wählen, wählen und nochmals wählen gab er als Marschrichtung seiner Partei vor, ganz nach dem Motto: In der Demokratie geht die Macht vom Volk aus. Geht es nach ihm, sollen die 73 Millionen Türken in aller Kürze ein neues Parlament wählen und auch in direkter Wahl den nächsten Staatspräsidenten bestimmen.

Radikale Lösungen

Das Paket geplanter Verfassungsänderungen, das Erdogan noch am Dienstagabend präsentierte, sieht neben der Direktwahl eine Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre vor - bislang sind es sieben. Das Parlament solle künftig nicht mehr alle fünf, sondern schon alle vier Jahre gewählt werden. Für den Fall, dass das Reformpaket im Parlament auf Widerstand stoßen sollte, werde er auch hier eine Volksabstimmung anstreben. "In Ankara ist damit begonnen worden, über radikale Lösungen zu reden", verkündete die Zeitung "Hürriyet" auf ihrer Titelseite.

Auch zu seinem alten Kampfgeist fand der Regierungschef schnell wieder zurück. Eine erste Breitseite feuerte Erdogan auf das Verfassungsgericht ab. Mit seiner Entscheidung habe das Gericht "eine Kugel auf die Demokratie abgefeuert", konterte Erdogan und erntete dafür stürmischen Beifall seiner Parteifreunde im Parlament. Der Wahlkampf in der Türkei ist entbrannt, noch bevor der Termin für die vorgezogene Parlamentswahl offiziell feststeht. (Von Ingo Bierschwale, dpa)

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