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Politik: Über und unter den Schichten

Von Harald Martenstein

Ich verstehe nicht, was gegen die Verwendung des Begriffs „Unterschicht“ sprechen soll. Es ist ein sachliches Wort. Möchte jemand ernsthaft behaupten, dass es in unserer Gesellschaft keine Schichten, kein „oben“ und kein „unten“ gäbe?

Die Soziologen sagen: Jemand, der weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens eines Landes verdient, ist arm. Demnach gäbe es in einer Gesellschaft, in der jeder genau 100 Euro verdient, keinen einzigen Armen. In einer extrem reichen Gesellschaft aber, mit einem Durchschnittsverdienst von 10 000, würde eine Person mit 6000 Euro Gehalt unter die Armutsgrenze sinken. Die Armut könnte nur dann besiegt werden, wenn alle das Gleiche verdienen. Das klingt nicht sehr überzeugend.

Eine Bekannte erzählte vor ein paar Tagen, dass sie jahrelang unter der Armutsgrenze gelebt habe. Sie empfand sich aber gar nicht als arm. Ich bin ins Theater gegangen, sagt sie, ich habe mir Kleider gekauft und war mir sicher, dass ich, irgendwann, einen besser bezahlten Job finde. Was auch passierte.

Kurt Beck hat recht, wenn er den Begriff „Unterschicht“ mit dem Begriff „soziale Mobilität“ verbindet. Zur Unterschicht gehört, wer weder den Willen noch die Möglichkeit dazu besitzt, an seiner Lage etwas zu ändern. Armut kann man überwinden, aus der Unterschicht kommt man fast nie heraus. Man trägt sie in sich. Die neue Unterschicht ist hauptsächlich deshalb entstanden, weil es nur noch wenig Bedarf an bezahlter manueller Arbeit gibt. Die Unterschicht ist also ein Teil dessen, was früher die Arbeiterklasse war. Gegen das Verschwinden der manuellen Arbeit aus den ehemaligen Industriestaaten aber kann die Regierung nur sehr begrenzt etwas tun, es handelt sich um einen weltweiten Umverteilungsprozess, zu unseren Ungunsten, zu Gunsten von Ländern wie China. Anders gesagt: Die Unterschicht ist sozusagen die Armut der Dritten Welt, die jetzt bei uns eingezogen ist.

Ich glaube nicht daran, dass neue, bessere Sozialgesetze und noch mehr Umverteilung an der Lage etwas Wesentliches ändern werden. Die Angehörigen der Unterschicht brauchen nicht mehr Geld, sie brauchen etwas, das ihrem Leben wieder Sinn gibt und sie aus Hoffnungslosigkeit und Lethargie herausreißt. Sie bräuchten Bildung und soziale Intelligenz. Das größte Problem dieses Landes ist wahrscheinlich sein verlottertes Bildungssystem, das viele Jugendliche als sprachlose Analphabeten ins Leben entlässt. Wer ins Theater geht, wer nachdenken kann und Bücher liest, kann arm sein, aber gehört nicht zur Unterschicht.

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