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Politik: „Übrigens beneiden wir Deutschland“

Finnlands Präsidentin Tarja Halonen über den nordischen Wohlfahrtsstaat, die Förderung von Familien – und Sinn für Humor in der Politik

Die Sozialdemokraten haben die Wahlen in Finnland verloren und mussten nach vielen Jahren aus der Regierung ausscheiden. In Schweden und Dänemark gab es eine ähnliche Entwicklung. Warum sind die traditionell in Nordeuropa so starken Sozialdemokraten in die Krise geraten?

Krise ist ein großes Wort, wenn man sich die Verluste in Prozent ansieht. Die Sozialdemokraten müssen jetzt genau untersuchen, was passiert ist. Ich komme selbst aus der sozialdemokratischen Partei, aber als ich Präsidentin wurde, habe ich die Partei verlassen. Politisch ist dieses Land dreigeteilt: in Sozialdemokraten, Zentrum und Konservative. Jetzt haben Sozialdemokraten und Konservative die Plätze getauscht, das Zentrum hat seine Position an der Spitze gehalten.

Die Sozialdemokraten sind eng verbunden mit dem Konzept des nordischen Wohlfahrtsstaats. Ist dieses Modell durch das Ausscheiden der Sozialdemokraten aus drei Regierungen bedroht?

Ich hoffe, dass das Modell des nordischen Wohlfahrtsstaates überleben wird. Es war gut für die Bürger, aber auch für die Unternehmen und die Länder als Ganzes. In allen internationalen Vergleichen – wenn es darum geht, wie wettbewerbsfähig ein Land ist, wer das beste Bildungssystem hat oder wo es am wenigsten Korruption gibt – stehen die fünf nordischen Staaten ganz oben. Dieses Modell muss nun politisch akzeptiert werden. In Finnland und in Schweden gab es vor der Wahl keine Diskussionen darüber, ob die Menschen das System als solches wollen. Es ging um einzelne Änderungen.

Wie sieht die Zukunft des nordischen Wohlfahrtsstaates aus?

Er ist tatsächlich bedroht. Dieses Modell verlangt viel Geduld von der Politik. Wenn man Geld in der Hand hat, will man mehr für sich selbst ausgeben. Aber eine Grundidee des nordischen Modells ist, nicht nur der eigenen Generation eine Chance zu geben, sondern Brücken zwischen den Generationen zu bauen. Das wird angesichts der nötigen nachhaltigen Entwicklung, der Umweltprobleme und der Globalisierung immer wichtiger. Aber jetzt sind die Herausforderungen größer, weil man mit dieser Geduld erfordernden, langsamen Politik die Fähigkeit verbinden muss, schnell auf neue Entwicklungen zu reagieren. In vielen EU-Ländern waren die Menschen sehr enttäuscht, weil diese Reaktionen für sie nicht befriedigend waren. Wir müssen klar sagen, dass wir nicht für lebenslange Jobs garantieren können. Die Gesellschaft kann aber versuchen, lebenslange Arbeit zu schaffen.

In Deutschland wird Finnland oft um sein Bildungssystem beneidet. Welche Bedeutung hat darin die Kinderbetreuung?

Auch wir beneiden übrigens Deutschland – um die universitäre Bildung. Kinder im Vorschulalter sind oft auf einem sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand. Das ist nicht angeboren, sondern hat mit dem persönlichen Umfeld zu tun. Die Vorschulerziehung hilft Kindern, mehr Freude am Lernen zu haben. Wir versuchen dabei den japanischen Weg des Unterrichtens zu vermeiden. Kinder sollten auch das Recht haben, Kind zu sein und ihre Kreativität zu stärken. Wir sehen das Thema aber auch ganz pragmatisch: Die Frauen sind bei uns zwar gut ausgebildet, sehen sich aber später mit der Tatsache konfrontiert, dass es schwer ist, Familie und Karriere zu vereinbaren. Kinderbetreuung ist sowohl gut für die Kinder als auch wichtig für die Eltern. Wir versuchen, flexiblere Systeme zu schaffen, um den Eltern zu helfen.

Was sind die nächsten Schritte?

Wir sollten die Eltern ermutigen, ihre Kinder früher zu bekommen, während sie noch studieren. Andernfalls wird der Zeitpunkt für das erste Kind immer weiter herausgeschoben. Dann kann es schwierig sein, mehr als ein Kind zu bekommen. Beim Thema Kinderbetreuung denken leider alle, das kann jeder. Deswegen bezahlen wir Menschen, die sich um Maschinen kümmern, besser als Menschen, die sich um Kinder kümmern. Deren Einkommen müssen dringend erhöht werden. Aber auch die Rolle der Männer ist sehr wichtig: Ich würde mir wünschen, die Öffentlichkeit könnte stärker akzeptieren, dass auch junge Männer ihre Rechte als Väter wahrnehmen. Wir haben zwar entsprechende Gesetze, aber im Arbeitsleben gilt es immer noch als unüblich, dass ein Vater zu Hause bleibt.

Zum ersten Mal in der finnischen Geschichte sind mehr Frauen als Männer in der Regierung: Sie stellen zwölf von 20 Ministerposten. Einige von ihnen haben kleine Kinder. Hat Finnland seine Ziele in der Gleichstellung erreicht?

Nein, das ist ein langer Prozess. Im Parlament sind schon mehr als 40 Prozent Frauen, damit haben wir ein wichtiges Ziel erreicht. Der Ministerpräsident sagt, die Zusammensetzung der Regierung sei Zufall gewesen: Nach der Auswahl der besten Kandidaten durch die Parteien hatten sie plötzlich zwölf Frauen. Ich bin gefragt worden, ob wir jetzt noch Quoten brauchen. Ich habe geantwortet, dass Quoten in der Politik nach wie vor notwendig sind, aber dass wir uns bei dieser Regierung darum keine Sorgen machen müssen: Ich glaube, dass alle acht Männer recht fähig sind … Psychologisch war diese Entwicklung sehr wichtig. Ich hoffe, dass wir in ein oder zwei Jahren die Minister nach ihren Leistungen bewerten. Bis heute werden Frauen in vielen Bereichen der Gesellschaft anders beurteilt: Wenn ein Mann einen Fehler macht, hat er persönlich einen Fehler gemacht. Wenn eine Frau einen Fehler macht, hat „die Frau“ einen Fehler gemacht. Das habe ich auch in meiner ersten Zeit als Außenministerin erlebt.

Als Sie Angela Merkel zum ersten Mal trafen, haben Sie sie davor gewarnt, dass Frauen in der Politik oft nach ihrem Erscheinungsbild beurteilt werden. Was raten Sie Frauen in der Politik heute?

Sie brauchen vor allem viel Sinn für Humor.

Das Gespräch führte Claudia von Salzen.

Tarja Halonen (63) ist seit 2000 finnische Staatspräsidentin. Die Juristin und linke Sozialdemokratin war zuvor Außenministerin. In der nächsten Woche besucht sie Deutschland.

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