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Auf dem Weg zum Frieden? Angela Merkel bei ihrer Ankunft in Moskau

© Juri Kochetkow/EPA/dpa

Ukraine-Konflikt: Showdown in Moskau: Hat die Diplomatie noch eine Chance?

Einige halten die Initiative von Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande für die letzte Möglichkeit, den Ukraine-Konflikt friedlich beizulegen. Doch ob das Treffen mit Putin in Moskau Erfolg haben wird, wagt niemand vorauszusagen.

Von Robert Birnbaum

Manche halten es für eine letzte Chance oder jedenfalls für etwas, was "nicht weit davon entfernt" ist. So stufte der russische Botschafter in Frankreich, Alexander Orlow, am Freitag die Reise von Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande erst in die Ukraine und nun nach Moskau ein. Die Beteiligten wählen weniger dramatische Worte. Aber als Merkel am Freitagmorgen zwischen Kiew und Moskau kurz in Berlin auftritt, sagt auch die nüchterne Deutsche einen Satz, der keinen Zweifel daran lässt, was ein Scheitern der deutsch-französischen Initiative bedeuten würde. "Es geht um die europäische Friedensordnung und ihre Aufrechterhaltung", betont Merkel. Doch ob das gelingen wird, das sei zur Stunde "völlig offen".

Merkel steht bei dem kurzen Auftritt im Kanzleramt neben dem irakischen Ministerpräsidenten Haider al Abadi. Der Besucher aus Bagdad gerät unfreiwillig zur Nebenfigur, der Kampf gegen die IS-Terroristen und Merkels Zusage, die irakische Armee mit Ausrüstung wie Nachtsichtgeräten und Uniformen zu unterstützen, erscheint als Randnotiz. Denn die Ukraine-Krise ist in den letzten Wochen auf einen neuen Höhepunkt zugetrieben – eine Entwicklung, die von anderen dramatischen Ereignissen wie den Anschlägen von Paris und dem Terror des IS ein wenig verdeckt worden war.

Doch ökonomisch, politisch und vor allem militärisch hat sich die Lage derart verschlechtert, dass Merkel sich zu einem ungewöhnlichen Schritt entschloss. Ihre Winterreise in den Kreml ist ein Versuch mit ungewissem Ausgang. Lange hatte sie ein solches Treffen mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin davon abhängig gemacht, dass ein Ergebnis greifbar sein müsse. Doch jetzt waren offenbar keine Emissäre vorher unterwegs, um diskret ein Einvernehmen auszuhandeln, das die Staatsgäste nur absegnen müssen. "Wir haben kein Hoffnungssignal aus Moskau", betonte noch kurz vor Merkels Abflug jemand aus dem Berliner Regierungsapparat, der es wissen muss.

Warum gerade jetzt?

Unmittelbarer Anlass für die deutsch- französische Initiative war die zunehmend unhaltbare militärische Situation. Die Einkesselung von tausenden Zivilisten und angeblich 8000 Soldaten in der Kleinstadt Debalzewo durch pro-russische Separatisten gab Merkel und Hollande den letzten Anstoß. "Sie wollten ein drohendes Blutvergießen an tausenden ukrainischen Soldaten verhindern", sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz.

So weit es die schätzungsweise 5000 Zivilisten in der Stadt angeht, gab es am Freitag zumindest ein Hoffnungszeichen. Die ukrainischen Regierungstruppen einigten sich mit den pro-russischen Separatisten überraschend auf eine kurze Waffenruhe. "Friedliche Zivilisten können die Stadt ungehindert verlassen", sagte Eduard Bassurin, der Vizeverteidigungsminister der selbst ernannten "Volksrepublik Donezk" am Mittag. Die Waffen würden bereits seit 9 Uhr schweigen – bis 17 Uhr Ortszeit (16 Uhr MEZ). Etwa 1000 Menschen hätten die Stadt schon verlassen können.

Wie ist die Lage vor Ort?

Nach westlichen Agenturberichten fuhr ein Dutzend Reisebusse über die Ortschaft Wuhlehirsk rund zehn Kilometer nach Debalzewo. Der Konvoi wurde auf halber Strecke von einem Radpanzer der ukrainischen Armee in Empfang genommen und in die zumindest teilweise noch von kiewtreuen Truppen kontrollierte Stadt begleitet. Nach Auskunft des ukrainischen Innenministeriums sollten sie die Stadt über einen "grünen Korridor" im Norden wieder verlassen können.

Diese Straße nach Artemowsk und Kramatorsk lag seit Tagen unter heftigem Artilleriefeuer der pro-russischen Separatisten. Damit ist die Stadt Debalzewo wohl de facto umzingelt. Die ukrainische Armee hatte den Verkehrsknotenpunkt in einem Keil zwischen den beiden selbst ernannten "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk erst im Sommer zurückerobert. Die Kämpfe toben seit Wochen. Amnesty International hat die Lage der Zivilisten als "katastrophal" gegeißelt. Die Situation der bis zu 8000 Regierungssoldaten soll nicht weniger dramatisch sein. Im Gegensatz zu den im August bei Ilowajsk umzingelten und später größtenteils von pro-russischen Kräften aufgeriebenen ukrainischen Truppen wird diesmal, ein halbes Jahr später, noch weit professioneller gekämpft. Die in einem rund 200 Quadratkilometer großen Gebiet eingeschlossenen Truppen sind einer konzertierten Attacke von Artillerie, Infanterie und Panzertruppen ausgesetzt. "Dies ist die größte und verbissenste Schlacht im russisch-ukrainischen Krieg", schreibt der ukrainische Armeejournalist Jurij Butusow.

Tatsächlich stellt die drohende Eroberung des strategisch wichtigen Debalzewo nur den vorläufigen Höhepunkt einer Reihe bitterer Niederlagen dar, die die ukrainische Armee erlitten hat. Die Separatisten, offenkundig massiv von Russland unterstützt, haben ihr Herrschaftsgebiet weit über die Linien hinaus ausgedehnt, die dem Minsker Waffenstillstandsabkommen im vorigen September zugrunde lagen.

Zur militärischen kommt die wirtschaftliche Krise der Ukraine. Am Donnerstag gab die Notenbank den Versuch auf, die Landeswährung Griwna mit ihren schwindenden Devisenreserven weiter zu stützen. Außerdem hob die Zentralbank ihren Leitzins um 5,5 Punkte auf 19,5 Prozent an – ein absehbar eher schwacher Versuch, die auf 25 Prozent gestiegene Inflation zu bremsen.

Welche Rolle spielt Barack Obama?

Den zweiten Anstoß zur deutsch-französischen Initiative lieferte ausgerechnet der große Verbündete in Washington. Ein gemeinsamer Report dreier einflussreicher Denkfabriken kam Anfang der Woche zu einem dramatischen Schluss: Wenn die USA Putins Vorgehen stoppen wollten, müssten sie der ukrainischen Armee mit "defensiven Waffen" wie Panzerabwehr-Raketen, Drohnen und Radar-Aufklärung helfen.

Offiziell hat sich Präsident Barack Obama dieser Linie bisher nicht angeschlossen; er hat wissen lassen, dass er eine Entscheidung nicht zuletzt von seiner Begegnung mit Merkel am kommenden Montag abhängig machen will. "Wir denken nicht, dass die Antwort auf die Krise darin liegt, einfach mehr Waffen ins Land zu pumpen", hat sein zweiter Sicherheitsberater Ben Rhodes erklärt.

Aber der designierte neue Verteidigungsminister Ashton Carter hat sich offen für Waffen ausgesprochen. Von Obamas Sicherheitschefin Susan Rice heißt es, sie überdenke ihre bisherige ablehnende Haltung. Vizepräsident Joe Biden machte jedenfalls deutlich, dass seine Regierung die Regelung der Ukraine-Frage nicht mehr unbegrenzt den Europäern überlassen will. "Russland darf nicht erlaubt werden, die Landkarte Europas neu zu entwerfen", warnte Biden bei einem Zwischenstopp in Brüssel auf dem Weg zur Sicherheitskonferenz. Putin habe bisher jede Abmachung mit dem Westen ignoriert.

Da ist es dann fast nur noch ein Schauspiel am Rande, wenn Obamas einstiger Gegenspieler als Präsidentschaftkandidat, der Republikaner John McCain, die Europäer und namentlich Merkel regelrecht anpöbelt. "Wenn man sich die Haltung der deutschen Regierung anschaut, könnte man meinen, sie hat keine Ahnung oder es ist ihr egal, dass Menschen in der Ukraine abgeschlachtet werden", wütete der Senator in einem ZDF-Interview, das am Samstag ausgestrahlt werden soll. "Wie viele Menschen müssen noch in der Ukraine sterben, bevor wir ihnen helfen, sich selbst zu verteidigen?"

Welchen Standpunkt vertreten die Europäer?

Für Merkels Krisendiplomatie stellt der amerikanische Vorstoß fast ein noch größeres Problem dar als die Lage in den Kampfgebieten selbst. In Berlin glaubt niemand, dass US-Waffenlieferungen die militärische Unterlegenheit der Ukrainer verändern können. "Der Nachschub für die Separatisten ist potenziell unbegrenzt", warnte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) am Freitag bei der Münchner Konferenz. "Eine Konzentration auf Waffen allein könnte ein Brandbeschleuniger sein." Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnt davor, dass "die Gesamtsituation völlig außer Kontrolle" geraten könnte. Ein Wettrüsten, wird in Berlin, aber auch in Paris vermutet, würde Putin nur als neue Herausforderung verstehen und mit gleichen Mitteln beantworten – aus einer strategisch weit günstigeren Situation.

Bei dem Gedanken daran, wie die USA dann ihrerseits auf eine solche direkte Herausforderung durch die konkurrierende Großmacht reagieren könnten, befällt Verantwortliche in Europa ein Frösteln. "Wollen sie dann amerikanische Berater und Spezialsoldaten in den Donbass schicken?", fragt ein deutscher Sicherheitsexperte. Die historischen Parallelen, die aufgemacht werden – von McCains polemischem Vergleich von Merkels Diplomatie mit der "Appeasement"-Politik gegenüber Hitler bis zur "Nachrüstung" der 80er Jahre –, gelten in der Bundesregierung als untauglich, um daraus direkte Lehren abzuleiten.

Allerdings – und das macht Merkels Position nicht einfacher – denken in Europa nicht alle so. Janusz Reiter, Polens früherer Botschafter in Deutschland, erinnerte in München an die Sichtweise seines Heimatlandes. Auch er glaube nicht, dass die ukrainische Armee den Konflikt mit Hilfe westlicher Waffenlieferungen militärisch gewinnen könne, sagt Reiter. In Polen und den baltischen Staaten argumentierten jedoch viele, dass Waffenlieferungen die Ukraine in die Lage versetzen könnten, ihr Territorium besser zu verteidigen.

Das würde, glaubten dort viele, den Preis für Russland erhöhen und Putin zu ernsthaften Verhandlungen über eine diplomatische Lösung zwingen – zu der es für ihn keinen Grund gebe, so lange die Separatisten militärisch überlegen seien. Waffenlieferungen in diesem Sinne seien keine Alternative zu Verhandlungen, sagt Reiter, sondern ein Instrument für eine diplomatischen Lösung.

Auch Frankreichs Präsident Hollande strebt eine dauerhafte Lösung des Konflikts an.
Auch Frankreichs Präsident Hollande strebt eine dauerhafte Lösung des Konflikts an.

© Alexander Nemenow/AFP

Wie stehen die Chancen für die Mission von Merkel und Hollande?

Wahrscheinlich hat Steinmeier die Situation am besten auf den Punkt gebracht: "Wir arbeiten daran, dass aus der Hoffnung eine Chance wird", sagte der Bundesaußenminister am Freitag, als Merkel und Hollande auf dem Weg nach Moskau waren. Merkel blieb bei ihrem Zwischenstopp in Berlin bewusst vage; sie unternehme zusammen mit dem französischen Präsidenten "alles in unserer Kraft Stehende, um ein Blutvergießen zu vermeiden". Auch Hollande wurde in Paris nur wenig deutlicher: "Eine Waffenruhe muss nur der erste Schritt sein, aber das kann nicht reichen", sagte der Präsident. "Wir müssen eine umfassende Lösung suchen."

Wie die aussehen könnte, darüber gab es reichlich Spekulationen, aber wenig gesichertes Wissen. Das europäische Spitzenduo hatte seine Ideen am Donnerstagabend in Kiew Präsident Petro Poroschenko unterbreitet. Die Basis, erläuterte Merkel anderntags, bleibe das Minsker Waffenstillstandsprotokoll. Spekulationen, dass sie am Freitag in Moskau eine Art "Minsk-Plus-Plan" vorlegen könnte, der die militärischen Eroberungen der Separatisten festschreibt, trat sie aber deutlich entgegen: Sie werde niemals über den Kopf eines anderen Landes hinweg sich mit "irgendwelchen territorialen Fragen befassen". Der Satz zeigt, wie kompliziert der Vermittlungsversuch ist. Er muss nicht nur Putin und seine militärischen Vasallen in der Ostukraine entgegenkommen, sondern auch die Interessen und Empfindlichkeiten in Kiew in Rechnung stellen. Wenn jemand territoriale Zugeständnisse macht – und ein Rückzug der Separatisten aus dem frisch erobertem Gebiet erscheint ja illusionär –, dann müssen das die betroffenen Länder selbst tun.

"Eine neue Sowjetunion"

Merkel hatte nach dem Treffen mit Poroschenko immerhin den Eindruck, dass der Ukrainer den Ernst der Lage verstanden hat. Aber Poroschenko ist alles andere als frei in seinen Entscheidungen. In seinem Land fürchten viele einen Deal zugunsten Russlands. Der frühere Außenminister Wolodimir Ogrysko drohte schon via Twitter: "Wenn unsere Regierung für eine Föderalisierung und für Blockfreiheit zu haben ist, kann sie ihre Koffer packen." Nichts fürchten viele Ukrainer mehr als einen vertraglich festgeschriebenen Verzicht auf ihren europäischen Kurs, auf eine mögliche Mitgliedschaft in der EU und der Nato, und sei beides auch in noch so weiter Ferne. Sie wollen nicht werden, was sie Putin als Ziel unterstellen: ein Land zwischen den Fronten, nicht Europa, nicht Russland, aber unter Kontrolle des Kreml.

Die Internetzeitung "Apostroph" schreibt denn auch: "Wir können nicht auf unsere Zukunft verzichten, nur weil Putin sein Gesicht wahren muss." Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew und Parteichef der pro-westlichen Udar-Partei, unterstrich in einem Interview mit der "Bild"-Zeitung, die Ukraine werde ihren Osten niemals aufgeben. Putin wolle in Wahrheit nicht nur die gesamte Ukraine kontrollieren, sondern "eine neue Sowjetunion aufbauen".

Außenminister Pawlo Klimkin sah sich zur Twitter-Gegenoffensive genötigt: "Keine Sorge. Niemand übt Druck auf UKR aus. FRA und DEU helfen uns, den Frieden zurückzuerhalten." Klitschko steht mit seiner pessimistischen Einschätzung aber nicht alleine da. Poroschenkos Gegenspieler in Kiew, der pro-amerikanische Regierungschef Arsenij Jazenjuk, machte noch nie einen Hehl daraus, dass die Ukraine unter seiner Führung Russland keinen Zentimeter weit nachgeben werde. "Dass im Donbass russisches Militär steht, kann jeder sehen, nur Moskau ist das bisher nicht aufgefallen, ich kann denen meine Brille leihen, dann sehen auch sie die Truppen", ätzte Jazenjuk beim Besuch von US-Außenminister John Kerry.

Wird Russlands Staatschef Putin mit sich reden lassen?
Wird Russlands Staatschef Putin mit sich reden lassen?

© Maxim Schipenkow/EPA/dpa

Wie reagiert Moskau?

In Moskau hingegen wurde die Ankunft der Emissäre aus Berlin und Paris begrüßt – kein Wunder, ist es doch das erste Mal seit Beginn der Sanktionspolitik, dass der Paria Putin derart hohen Besuch bekommt. „Eine beispiellose diplomatische Initiative“, schrieb die überregionale Tageszeitung "Kommersant". Die regierungsnahe Nachrichtenagentur "RIA nowosti" beschreibt den "Merkel-Hollande-Plan" als eine aktualisierte Variante des Minsker Protokolls. Die englischsprachige The "Moscow Times" will erfahren haben, dass neben neuer Waffenruhe, Truppenentflechtung und Abzug schwerer Waffen aus der Kampfzone die weitgehende Autonomie für die Ostukraine mit spezifischen Klauseln zu Sprache, Kultur und Steuern erwogen werde – davon soll der Kreml seine Gesprächsbereitschaft abhängig gemacht haben.

Vielleicht hängt die aber auch mit jüngsten Umfragen zusammen. So hielten im März 2014 insgesamt 57 Prozent die Eroberung der Krim für richtig, jetzt sind es sieben Prozent weniger. Und während sich noch vor knapp einem Jahr 48 Prozent den Anschluss der Ostukraine an Russland wünschten, sind es zurzeit nur noch 19 Prozent.

Wie weit sich darin die wirtschaftlichen Probleme Russlands spiegeln, das den niedrigen Ölpreis ebenso spürt wie Folgen der Sanktionen, ist unklar. Bei den Gesprächen im Kreml dürften solche Fragen aber durchaus eine Rolle spielen. Bleiben sie ergebnislos, wäre es für Merkel und Hollande unumgänglich, beim nächsten informellen EU-Ratstreffen weitere Sanktionen gegen Russland aufzurufen.

An einer Deeskalation besteht also auf beiden Seiten ein Interesse. Fragt sich nur, ob es das entscheidende Interesse ist. Das maximale Ergebnis, befand Russlands außenpolitischer Vordenker Fjodor Lukjanow in einem Radiointerview, sehe er in einem "Einfrieren des Konflikts".
Mitarbeit: Paul Flückiger, Nina Jeglinski, Barbara Junge, Ingrid Müller, Christoph von Marschall, Elke Windisch.

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