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"Und erlöse uns von allen Üblen" #55: Kleopatras Teppichtrick

Die Verschwörergruppe kann ungehindert agieren. Die Polizei ermittelt in eine andere Richtung. Ein Fortsetzungsroman, Teil 55.

Was bisher geschah: Die Ermittlungen der Polizei im Mordfall Freypen richten sich auf einen angeblichen Bootsunfall vor vierzig Jahren. Der wahre Mörder ist in Sicherheit.

In 100 Teilen bis zur Bundestagswahl 2017 erscheint der Politkrimi "Und erlöse uns von allen Üblen" online als Fortsetzungsroman im Tagesspiegel. Hier Folge 55 vom 9. August.

Während der Suche nach möglichen Kunden des belgischen Kinderschänders und Mörders Marc Dutroux waren zwischen 2001 und 2002 zwanzig mögliche Zeugen bei Autounfällen ums Leben gekommen. Zeugen, die laut Angaben von Dutroux hätten belegen können, dass er die Kinder entführt habe im Auftrag von hochgestellten Persönlichkeiten mit pädophilen Neigungen. Der für die Ermittlungen zuständige Staatsanwalt hatte angeblich Selbstmord begangen, was seine Witwe jedoch nie glaubte, sondern für Mord hielt. Nach der Verurteilung Dutrouxs zu lebenslänglicher Haft wurden 2004 die Akten geschlossen. Er musste seitdem im Gefängnis beschützt werden, sobald er die Zelle verließ, denn normale Mörder hatten verkündet, im Namen des empörten Volkes, zu dem sie sich trotz ihrer Taten rechneten, an ihm die Todesstrafe zu vollstrecken.

Ein hoher Richter, festgenommen aufgrund von Dutroux-Aussagen, aber gegen eine Kaution von einer Million Euro aus der Untersuchungshaft entlassen, hatte sich kurz darauf aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand verabschiedet und aufs Land zurückgezogen. Niemand stellte die naheliegende Frage, wie ein Staatsbeamter eine Million Euro als Kaution aufbringen konnte oder wer ihm die wohl die gegeben hatte, damit er schwieg, denn ein weiterer zufälliger Autounfall wäre im Fall des Richters wohl doch zu auffällig gewesen. Für Kleopatra war er ein perfekt zu ihr passender Todeskandidat.

Sie kannten nicht nur die von ihren zuständigen EUROPOL-Kollegen entdeckten Filme und Fotos aus den virtuellen Schreckenskammern der Pädokriminellen, betrieben von anonymen Servern in Ländern wie der Ukraine oder Weißrussland.  Alain hatte bei einer vom BKA und dem Opferschutzverein Dunkelziffer organisierten Schulung auch Tonaufnahmen anhören müssen. Die Schreie der Kinder, während sie vor laufenden Kameras missbraucht worden waren. Täter sah man dabei immer nur von hinten.

Retins Plädoyer, wenigstens jenen namentlich bekannten Mann, der sich der irdischen Gerechtigkeit entzogen hatte, zur Hölle zu schicken, war deshalb eindrucksvoll gewesen - und kurz. Das Votum, gefällt nach der Feier zum 30. Geburtstag von Alain im Mai 2009 in der Bar des Hotel des Indes in Den Haag, geschah einstimmig, so wie es die ungeschriebene Satzung vorsah.

Der Richter lebte in einem versteckten Landhaus in den Ardennen. Zunächst hörten sie sein Telefon ab. Eine leichte Übung für Profis. Bei der Überwachung hatten sie mitbekommen, dass seine Haushälterin bei einer chemischen Reinigung anrief und den Auftrag erteilte, ein paar große Teppiche abzuholen. Die sollten gereinigt und am Ende der Woche wieder zurückgebracht werden.

Die Frau war höchst überrascht, als die bereits spät am Abend des dritten Tages wieder geliefert wurden und den beiden Männern, in denen auch gute Freunde nicht sofort Ruud van Rey und Peter McFerrer erkannt hätten, Vorwürfe gemacht, dass sie um diese Uhrzeit und unangemeldet gekommen war. Sie zeigte ihnen die Treppe nach oben, blieb selbst aber unten in ihren Räumen. Eine Teppichrolle schien den beiden Männern eine besonders schwere Last zu sein. Jedenfalls stöhnten sie bei jeder Stufe.  Der Richter hatte nur kurz aus seinem Zimmer  im ersten Stock gerufen, was das denn für ein Gestöhne sei, er wolle verdammt noch mal in Ruhe schlafen.

Die Polizei fand den vom Besitzer der Reinigung als gestohlen gemeldeten Lieferwagen zwei Tage später am Bahnhof von Lüttich. Keiner konnte sich erklären, warum die geheimnisvollen Diebe zwar ein paar teure echte Teppiche aus dem Lager geklaut, aber die beim Eigentümer abgeliefert und nicht als Beute behalten hatten. Der eigentliche Besitzer der Teppiche allerdings war seit diesem Abend spurlos verschwunden.

Man schrieb ihn zur Fahndung aus, erhielt aber nicht den geringsten Hinweis darauf, wo er sich verborgen hielt. Es gab auch keine Bewegungen auf seinem Konto, doch das musste noch nichts bedeuten. Der Richter hatte nach Aussagen seiner Haushälterin immer Bargeld im Hause. Im Frühjahr entdeckten zwei Waldarbeiter in einer Tannenschonung, die zu seinem Besitz gehörte, einen bereits skelettierten Körper, der an einem Baum hing. Der Richter, den die Polizei anhand seiner Zähne identifizierte, dürfte sich bereits vor Monaten dort aufgehängt haben. Man nahm den Selbstmord als spätes Schuldgeständnis und verkaufte der Öffentlichkeit seinen Tod als Folge polizeilicher Ermittlungen, vor deren Ergebnis er Angst gehabt haben musste.

Auf die Idee, dass ihn einer an diesem Baum aufgeknüpft hatte, der geheimnisvolle Fahrer zum Beispiel, kam sogar der Polizeiinspektor vor Ort. Aber er merkte schnell, dass in Brüssel dieser Verdacht bei Beamten der obersten Ränge auf wenig Resonanz stieß. Weil das öffentliche Interesse an dem Skandal, der ein Skandal der herrschenden Cliquen war, so erfreulich schnell nachgelassen hatte, schloss er auf Anweisung seines Vorgesetzten die Akte. Bei der nächsten Wahl blieb er zuhause. Das hielt er für eine ihm gemäße Form von Protest.

Alain Retin hätte den Richter zwar liebend gern lebendig in dessen eigenem Keller eingemauert, nur wegen des Zeitaufwands und der entstehenden Geräusche darauf verzichtet und nicht etwa deshalb, weil ihm irgendwelche moralischen Bedenken gekommen wären. Er brauchte nur an die beiden kleinen Mädchen zu denken, die in einem Verließ des Hauses von Dutroux hinter Mauern verhungert waren, wovon der Richter gewusst haben muss, um den leisesten Hauch von Gewissensbissen zu vertreiben.

Nachdem er nachts sein Versteck im Teppich verlassen und den bereits Schnarchenden mit vorgehaltener Pistole geweckt hatte - so wenigstens erzählte er es nach der Rückkehr seiner Katze Kleopatra - habe aber letztlich sein gutes Herz gesiegt. Retin hatte dem Kinderschänder großzügig gestattet, sich für einen nächtlichen Spaziergang anzukleiden, und anschließend, wiederum mit vorgehaltener Pistole, sogar die Erlaubnis erteilt, sich selbst aufzuhängen. Im letzten Moment hatte der Delinquent gemerkt, dass dies keine Entführung werden sollte, sondern eine Hinrichtung, und um sein Leben gekämpft. Deshalb musste ihn sein Henker erst bewusstlos schlagen, bevor er ihm die Schlinge um den Hals legte und die beiden Fahrer des Lieferwagens anrief, die ihm beim Aufziehen des Körpers auf die Blautanne helfen sollten.

Solche kunstvollen Arrangements waren Ruud van Rey zu kompliziert. Der Holländer schätzte die direkte Art. Ein simpler Kopfschuss, bei dem er nicht die geringste Spur hinterließ, war für ihn die sauberste Lösung von Problemen. Während seiner Ausbildung hatte er gelernt, dass es bei Attacken darauf ankam, überraschend zuzuschlagen und schnell zu verschwinden. In den ersten Monaten seiner Arbeit bei EUROPOL zum Beispiel hatte er blauäugig darauf vertraut, dass man in Albanien gegen die Rauschgifthändler in gemeinsamer Aktion mit der örtlichen Polizei etwas erreichen könne. Aber nicht bedacht, dass die obersten Ränge von den von denen geschmiert waren, gegen die sie angeblich mit aller Härte vorgingen. Er lernte aber schnell.

Und morgen lesen Sie: Ermittlerin Hornstein steht ein schwieriges Treffen bevor.

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