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Vor der Entscheidung. In einem Wahlbüro in Rom werden die Stimmzettel vorbereitet. Die Italiener konnten am Sonntag und Montag abstimmen.

© Yara Nardi/Reuters

Unklare Machtverhältnisse: Im politischen Schwebezustand

Italien bräuchte eine stabile und handlungsfähige Regierung. Wenn es aber so chaotisch weitergeht wie mit den Prognosen und Hochrechnungen am Wahlabend, lässt sich nur das Schlimmste befürchten. Eine Analyse.

Als erstes werden sich nach dieser Parlamentswahl die italienischen Meinungsforschungsinstitute bohrende Fragen gefallen lassen müssen. Dann diejenigen in den Fernsehanstalten, die aus irgendwelchen - nicht einmal klar erläuterten - Zahlen unverzüglich einen mehr als klaren Sieg der Sozialdemokraten meldeten. Um 15 Uhr schlossen am Montag die Wahllokale, es dauerte bis 16.37 Uhr, bis einem Experten im Fernsehen sichtlich schlaglichtartig aufging, dass ganz im Gegenteil Silvio Berlusconi die Wahl gewonnen haben könnte. Und während die angeblich mathematisch durchdachten Hochrechnungen gegenüber den realen, nach dem Zufallsprinzip einlaufenden Zahlen zunehmend kapitulierten, ging es bis in den späten Abend hin und her. Und der Abstand zwischen den großen Parteien wurde immer enger. Erinnerungen an 2006 kamen auf, als Romano Prodi mit genau 24.000 Stimmen Vorsprung gewann, irgendwann in tiefer Nacht.

Drei Sachen immerhin  standen ziemlich schnell fest: dass Silvio Berlusconi eine von keinem vorhergesagte, sensationelle Aufholjagd hingelegt hatte – vom „miracolo Berlusconi“ sprachen seine Anhänger schnell –,  dass der Radikalpopulist Beppe Grillo mit 25 Prozent der Stimmen seine erst dreieinhalb Jahre alte  „Fünf-Sterne-Bewegung“ aus dem Nichts in geradezu astronomische Höhen geschossen hatte, und dass Mario Monti, der in Europa so gefeierte „Retter Italiens“ bei seinem eigenen Volk kaum Anklang fand. Bis zu 18 oder 19 Prozent hatten ihm die Umfragen versprochen; zwischendurch aber musste er befürchten, im entscheidenden Senat an der Acht-Prozent-Hürde hängen zu bleiben, und wenn er im Endergebnis auf zehn Prozent kommt, kann er froh sein.

Aber wer würde am Ende Italien regieren? Gegen 17.30h trat eine vergleichsweise gut gelaunte Innenministerin vor die Kameras – sie konnte als Landeswahlleiterin wenigstens bis dahin stolz sein auf die ausnahmsweise störungsfrei verlaufende Auszählung – und verkündete, „so gegen Mitternacht“ werde das Gesamtbild feststehen.

Dass Italien eine handlungsfähige Regierungsmehrheit bekommen würde, glaubte zu diesem Zeitpunkt schon niemand mehr. Allzu deutlich – immer nach dem realen Zwischenstand – hatte Berlusconi in der wichtigen Region Lombardei die Sozialdemokraten Bersanis hinter sich gelassen. Und ohne die Stimmen der Lombardei in der „Länderkammer“ des Senats nützt den Sozialdemokraten nicht einmal  eine absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus mehr etwas.

Kein Wunder, dass sich von den Sozialdemokraten bis in den späten Abend kein führender Mensch vor den Fernsehkameras blicken ließ. Pier Luigi Bersani, der lange Zeit ganz selbstverständlich und ohne jeden Zweifel als Wahlsieger gehandelt worden war – er blieb wie vom Erdboden verschluckt. Genauso verschwunden, aber auf  ganz eigene Weise blieb der wirkliche Wahlsieger, Beppe Grillo: Nachdem er in seiner Heimatstadt Genua gewählt hatte, zog er sich, so sagte er jedenfalls, in seinen Garten zurück. Während des Wahlkampfs sei sein Salat etwas zu kurz gekommen. Und abends, als die Fernsehteams ihn zur großen Party erwarteten, teilte Grillo über das Internet-TV seiner Bewegung mit, er liege schon im Bett.

Und wo war Berlusconi den ganzen Abend lang? Den großen öffentlichen Triumph wollte er sich bis zum endgültigen Ergebnis aufsparen. So lange: kein Kommentar.

Regierung muss sozialen Konsens neu organisieren

Silvio Berlusconi ist eine enorme Aufholjagd gelungen.
Silvio Berlusconi ist eine enorme Aufholjagd gelungen.

© Reuters

Nun also steuert Italien auf ein Patt, auf die Unregierbarkeit zu. Dabei bräuchte es gerade in der Krise eine starke Regierung. Sie hätte so viel zu tun: Zu verteilen gibt es nichts, umso mehr muss jedwede neue Regierung daran arbeiten, dem Land wieder Hoffnung zu geben. Die Wirtschaftskrise wird sich, allen Voraussagen nach, noch mindestens bis zum Frühjahr 2014 halten; solange wird der Anstieg der Arbeitslosenzahlen nicht zu bremsen sein. Noch hält der soziale Friede. Aber wie lange, angesichts der politischen Ungewissheit?

Im Fernsehen sagte die erfahrene Journalistin Lucia Annunziata, selbst wenn sich Berlusconis Volk der Freiheit und Bersanis Sozialdemokraten zusammentäten, wäre nichts gewonnen: „Die Italiener wollen, das zeigen die Stimmen für Grillo, einen Wechsel. Eine große Koalition wäre aber die genaue Verkörperung des Alten. Dann wären vielleicht die Politiker sich einig, aber alle Plätze des Landes voll mit protestierenden Anhängern Grillos.“

Wie lang kann Italien diesen politischen Schwebezustand aushalten? Wie reagieren die Finanzmärkte? Wird Italien nicht bald wieder das Spekulationsobjekt, das es bis zum Auftritt Mario Montis war? Und was bringt der Herbst? Vor allem dann, wenn ganz Europa nicht vom Fleck kommt und Italiens auf den Export angewiesene Industrie auf ihren Produkten sitzen bleibt?

Vor allen konkreten Maßnahmen – die ohnehin erst mit Verzögerung wirken – müsste jede italienische Regierung deshalb versuchen, den sozialen Konsens zu organisieren. Sie müsste im Parlament beginnen, die tiefen Gräben zwischen den Lagern einzuebnen und das fortzuführen, was in der „Techniker“-Ära Monti nur für drei, vier Monate gelungen ist: eine große Verständigung darüber zu erzielen, dass das Land gemeinsame Anstrengungen nötig hat und nicht permanentes Hickhack unter den Parteien. Doch angesichts des Wahlergebnisses gilt diese Hoffnung als aussichtslos.

Dabei gäbe die große Zahl neuer Abgeordneter tatsächlich die Chance, neue Wege im Verhältnis zueinander zu suchen – und dann stehen die etablierten Parteien jetzt auch unter einem enormen Selbstrechtfertigungsdruck: Angesichts des großen Erfolgs der „Grillini“, unter unmittelbarer Beobachtung und Druck dieser vielen jungen, bisher basisdemokratisch orientierten Abgeordneten, können sie sich die klassischen „Spielchen“ und die hergebrachte Selbstbedienung der „politischen Kaste“ nicht mehr leisten. Erst ein Parlament, das sich selbst in glaubhafter  Weise reformiert, könnte Signale eines tatsächlich gewollten Neubeginns an die Bürger senden. Aber dafür wird die Selbstfindung des derart einzigartig neu zusammengesetzten Volksvertretung zu lange dauern.

Und es wird kein Raum sein für liegengebliebene Reformen - zum Beispiel jene der öffentlichen Verwaltung. Mario Montis Professorenkabinett hat dafür praktisch nichts getan. Es geht um den Abbau einer Bürokratie, an der das Land zu ersticken droht. Es geht um den Abbau eines Systems, das stark an die verblichene DDR erinnert: dass Menschen in Behörden oder Betrieben gehalten und dort bezahlt werden, auch wenn es  für sie praktisch nichts zu tun gibt – Hauptsache, sie haben ihr Auskommen, sie stehen nicht auf der Straße und belasten nicht die Arbeitslosenstatistik.

Das wäre eine der heikelsten Reformaufgaben der neuen Regierung. Und auch zur Förderung von Arbeitsplätzen aber bliebe für die neue Regierung eine Menge zu tun. Montis mit den Sozialpartnern ausgehandelter und im Parlament zerpflückter Reformentwurf hat die Lage eher verschlimmert als gebessert. Abgesehen von den Zehntausenden, die seit vielen Monaten – bei Fiat beispielsweise – auf Kurzarbeit oder gar Kurzarbeit Null gesetzt sind, werden auch praktisch keine Leute eingestellt. Das führt zu einem gewichtigen Generationenproblem: Einer Arbeitslosenquote von 37,1 Prozent bei den 15- bis 24-jährigen steht bei den Älteren praktisch eine Vollbeschäftigung gegenüber: Unter den mindestens 55jährigen sind nur 4,7 Prozent arbeitslos.

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