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Politik: Unschuldig schuldig

Sechs Prozent der Stasi-IM waren jünger als 18 Jahre – Sachsen will die Lehrer noch einmal überprüfen

Dresden - Die Stasi schlich sich in der „Milchbar“ in das Leben von Utz Rachowski. Der damals 16-Jährige wurde von einem Mitschüler im sächsischen Reichenbach ausspioniert. Was der stille Sitznachbar seinem Lehrer von der „staatsfeindlichen Hetze“ Rachowskis in einer lokalen Kirchengruppe berichtete, erreichte schnell die Staatssicherheit. Die Folge: Ausschluss des unbequemen Schülers aus der Erweiterten Oberschule. Der Traum von Abitur und Studium war für Utz Rachowski damit geplatzt. Stattdessen musste er eine Elektrikerlehre absolvieren. Das war 1971. Erst Jahre später durfte der Ausgestoßene das Abitur nachholen und studieren. Doch schon bald wurde er verhaftet und 1980 schließlich ausgebürgert. Keiner seiner fünf Freunde aus der Kirchengruppe, die mit ihm in der „Milchbar“ gesessen hatten, durfte später auf eine Hoch- oder Fachschule.

In Sachsen bietet sich nun die vermutlich letzte Chance, solche Ungerechtigkeiten ans Licht zu bringen. Das Kultusministerium des Freistaats will alle Lehrer erneut auf eine mögliche Stasi-Mitarbeit durchleuchten. Bis Jahresende sollen die Regionalschulämter ihre Überprüfungsunterlagen an die Stasi-Unterlagenbehörde schicken. Ende 2006 läuft diese Überprüfungsmöglichkeit aus. Anlass für die Wiederholungsanträge ist die Freigabe der so genannten Rosenholz-Dateien, 381 CD-ROMs mit Informationen über das Agentennetz des Auslandsgeheimdienstes der DDR.

Fast alle Mitarbeiter werden überprüft. Nur wer zu Beginn 1990 unter 18 Jahren war oder zum Jahresende aus dem Schuldienst ausscheidet, ist nicht betroffen. So kommen auch Westdeutsche, die heute in Sachsen arbeiten, unter die Lupe. „Damit wollen wir verhindern, dass eine Zweiklassengesellschaft in den Lehrerzimmern entsteht“, begründet ein Ministeriumssprecher die Entscheidung. Doch wer als Minderjähriger seine Mitschüler, Freunde oder Vereinskollegen ausspionierte, bleibt unbehelligt. Die Birthler-Behörde darf Informationen über junge Menschen wie den, der mit 16 Jahren Utz Rachowski anschwärzte, nicht veröffentlichen.

Das Ministerium für Staatssicherheit durchkämmte bereits siebte Schulklassen nach künftigen Informanten. Wer Interesse zeigte und der Stasi tauglich schien, dem winkte nach der Schule eine Offizierslaufbahn in der Nationalen Volksarmee. Auch hauptamtliche Ministeriumsmitarbeiter in spe wurden so geworben. Ihre möglichen Helfer sprach die Stasi direkt in der Schule an. Oft ist heute nur noch schwer nachzuweisen, wer für die Stasi spionierte, denn die Schüler verpflichteten sich nur mündlich zur Mitarbeit. Erst wer volljährig war, unterschrieb eine Verpflichtung als Inoffizieller Mitarbeiter (IM). 173 000 IM registrierte die Stasi 1988 in ihren Karteien. Sechs Prozent von ihnen waren nach Angaben der Birthler-Behörde unter 18 Jahren. Zu diesen 10 000 Jugendlichen kamen weitere 7000 Inoffizielle Mitarbeiter zwischen 18 und 24 Jahren.

Noch immer sind erst 58 Prozent der erhaltenen MfS-Akten aufgearbeitet. Auch die 16 000 Säcke mit rund 600 Millionen Papierschnipseln, die im Keller der Birthler-Behörde in Berlin lagern, bergen vermutlich noch viele Schicksale. Die Geschichte der jugendlichen IM ist noch lange nicht erschlossen.

Matthias Lohre

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