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Politik: Unser vergessenes Land

Warum es sich lohnt, auf die Region Berlin-Brandenburg und ihre Zukunft stolz zu sein / Von Manfred Stolpe.

Es ist gut, dass Berliner Journalisten sich häufig mit Brandenburg befassen. Das ist für uns Brandenburger ein Vorteil. Allerdings fällt eine Neigung auf, Negativschlagzeilen zu suchen, so als ob Brandenburg das Land von Neonazis, Rassisten, Kindsmörderinnen, Stasiseilschaften und Politikerfilz wäre. Der unkundige Leser kann den Eindruck gewinnen, dass Berlin von einem Gruselland umgeben ist, in dem sich Wölfe wohlfühlen, die inzwischen auf fünf Rudel, drei Paare und einige Einzelgänger herangewachsen sind.

Es ist Aufgabe der Journalisten, Auffälliges herauszustellen. Und es gab auch in Brandenburg erschreckende Ereignisse. Meine Sorge ist aber, dass sich ein Negativbild verfestigen könnte. Das beunruhigt mich. Vor allem wegen meiner tiefen Überzeugung von der Zusammengehörigkeit der Region Berlin-Brandenburg. Berlin und Brandenburg, die Metropole und das märkische Umland, sind eine Region der Gegensätze und der Gemeinsamkeiten. Diese unterschiedlichen Teile waren in ihrer Geschichte aufs Engste miteinander verknüpft. Über 700 Jahre gehörten die Residenzstadt Berlin und die Mark Brandenburg zusammen – politisch, kulturell, wirtschaftlich und militärisch. Diese enge Verknüpfung wurde durch die deutsche Teilung radikal unterbrochen.

Hauptverlierer des großen Krieges und Opfer der deutschen Teilung waren Berlin und Brandenburg. Westberlin in der Dauerbedrohung und erzwungenen Isolierung, Brandenburg und Ostberlin in einer Diktatur mit Beseitigung der Meinungsfreiheit, Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender, ideologischer Bevormundung, Freiheitsberaubung und Mangelwirtschaft. Darin habe ich gelebt. Als Schüler und Mitglied der Jungen Gemeinde entging ich der Entfernung aller aktiven Mitglieder der Jungen Gemeinde von der Schule vor dem Abitur nur, weil ich noch zu jung war. Den Volksaufstand am 17. Juni 1953 erlebte ich voller Erwartung auf Veränderungen und mit der prägenden Erfahrung seiner gewaltsamen Niederschlagung. Der Westen konnte nicht helfen, auch nicht als wir 1961 eingemauert wurden. Aber die Verbindungen zum Westen konnten nicht beseitigt werden. Zehntausende Besucher aus der Bundesrepublik, darunter sehr viele Westberliner, kamen trotz aller Schikanen zu Besuch.

Die Evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik und in der DDR förderten ein breites Netzwerk von Gemeindepartnerschaften. Kurt Scharf und Reymar von Wedel mit Unterstützung aus Bonn durch Hermann Kunst und Heinz-Georg Binder in Verbindung mit der Bundesregierung waren für mich als Kirchenjurist wichtige Verbindungspartner. Sie unterstützten die Kirche im Osten mit Finanzmitteln, Engpassmaterialien und Medikamenten. Sie waren Nothelfer für Verhaftete, Schwerstkranke, Ausreisetraumatisierte. Wir nutzten jede Gelegenheit, um Erleichterungen für Menschen in der DDR zu erreichen.

Die Ostpolitik der Bundesregierung bis hin zur Einbindung der DDR in den Pakt für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa stärkten meine Erwartung auf Erleichterungen und Veränderungen. Die DDR-Führung allerdings versuchte verzweifelt, den Spagat zwischen der außenpolitischen Öffnung mit Annäherung an die Bundesrepublik und der Beibehaltung innerpolitischer Repressionen. Als dann selbst die Führungsmacht Sowjetunion unter Gorbatschow Veränderungen einleitete, war ich mir sicher, dass Reformen kommen würden. Ich unterstützte systemkritische kirchliche Gruppen durch Vermittlung von Räumen und Vervielfältigungsmaterial. Allerdings war meine Überzeugung, dass Veränderungen nur unter Vermeidung von Zuspitzungen ohne Gewalt möglich waren. Denn ich kannte die Macht der Sowjettruppen und der bewaffneten Kräfte in der DDR. In meiner Generation saßen die Erfahrungen des Krieges, der blutig niedergeschlagenen Aufstände von 1953, 1956 und 1968 sehr tief.

Im Sommer 1989 hatte ich große Sorge vor einem Gewaltausbruch. Doch dann kamen die sich überstürzenden Ereignisse des Herbstes 1989 mit großen Demonstrationen im ganzen Lande für Demokratie und Freiheit, aber auch der Verzicht der Machthaber auf Waffengewalt.

Die Spontanität der Volksbewegung in der DDR erschreckte nicht nur die Führungen der DDR und der Sowjetunion, sondern auch den Westen. Intensiv wurde ich als leitender Jurist der Evangelischen Kirche von Vertretern der vier Mächte gefragt. Baker, Mitterand, Jakowlew und Primakow gehörten dazu. Alle wollten wissen, gibt es jetzt Chaos und Bürgerkrieg in der DDR? Sind internationale Spannungen und Konfrontationen in Europa die Folge? Meine Antwort war: Nur freie Wahlen könnten eine neue Ordnung und neue Stabilität schaffen. Schließlich kam das Politbüro der KPdSU Anfang 1990 zu dem entscheidenden Beschluss, dass die Fortsetzung der Ost- West-Annäherung wichtiger sei als die gewaltsame Aufrechterhaltung der DDR.

Das Wunder der Einheit geschah. Ein kleines Wunder nach diesem großen Wunder war die Wiedergeburt Brandenburgs. Brandenburg war ein vergessenes Land. Thüringer und Sachsen hatten auch in der DDR noch eine Identität. Das Land zwischen Elbe und Oder aber war geschichtslos geworden, aus Gründen der Staatsräson. Mit Brandenburg wollte man das Kernland Preußens treffen. Preußen galt als Wegbereiter des Nazisystems und Wurzel konservativer Kräfte in der Bundesrepublik. Wer von Brandenburg sprach, war als Preußenanhänger verdächtig. An Brandenburg zu erinnern, könnte dem Westen einen Einstieg in die Beseitigung der DDR erleichtern.

In der Evangelischen Kirche Berlin- Brandenburg konnte Brandenburg nicht vergessen werden. Auf Pfarrkonventen lernte ich das Brandenburg-Lied kennen und auch den Roten Adler. Aus Westberlin konnte ich mir Aufkleber mit dem Adler beschaffen, die ich auf mein Auto klebte und auch weitergab. Tief erschrocken war ich allerdings, als mich ein sonst hoch gebildeter Bekannter auf das Wappen ansprach und fragte, wie ich denn nach Tirol gekommen sei. Der Mann kannte den Roten Adler als Wappen von Tirol – und wusste nichts vom Land Brandenburg und seinem Wappentier.

Als dieses Land 1989 wieder möglich wurde, galt es, seine Wurzeln und Traditionen neu zu entdecken. Brandenburg- Preußen war für mich auch verbunden mit der Erinnerung an die Wiederaufbauleistungen infolge der Zerstörungen nach dem Dreißigjährigen und dem Siebenjährigen Krieg durch Überlebenswillen, Fleiß, Toleranz, Einbeziehung aller Gutwilligen und Anwerbung vieler Helfer aus anderen Ländern. Unsere Lage war vergleichbar. Nur dass wir nicht Helfer aus Holland, Frankreich oder Österreich werben mussten, sondern Aufbauhelfer vor allem aus Nordrhein-Westfalen aber auch aus Berlin-West gewinnen konnten. Es waren Menschen, die anfangs unter sehr schwierigen Bedingungen Verwaltung, Medien, politische und soziale Organisationen in Gang brachten. Der Umbruch beseitigte die staatliche Kontrollwirtschaft und führte den Markt als Bestimmungskraft über die Existenz von Betrieben ein mit verheerenden Folgen für tausende Unternehmen und hunderttausende Arbeitsplätze. Es war ein totaler, sozialer und mentaler Umbruch für die Menschen.

Die Diktatur hatte eine große Bürde hinterlassen. An erster Stelle stand das Unrecht, das vielen Menschen widerfahren war. Ich war der Auffassung, was strafrechtlich relevant war, musste mit den Mitteln des Rechts aufgeklärt und bestraft werden. Unser erster Justizminister Hans-Otto Bräutigam hatte davon klare Vorstellungen. Recht, nicht Rache, Wahrheit und Versöhnung waren der Weg, den wir eingeschlagen haben. So hatte es mir der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu, ein Vertrauter von Nelson Mandela, nahegelegt.

Die erste Regierung im neuen Brandenburg haben SPD, FDP und Bündnis 90 gebildet. PDS und CDU waren im Landtag die Opposition, und doch haben wir bis 1994 15 Gesetze von allen Fraktionen gemeinsam eingebracht und beschlossen. Wir wollten den großen Herausforderungen gemeinsam begegnen. „Konsensdemokratie“ nannten es manche Beobachter abfällig. Mir war das aber wichtiger als eine „Konfrontationsdemokratie“ mit parteipolitischen Rechthabereien. Am 14. Juni 1992 wurde eine von allen Parteien des Landtags gemeinsam erarbeitete Verfassung in einer Volksabstimmung mit 94 Prozent bestätigt. Diese Verfassung nahm als einzige in Ostdeutschland den Entwurf des Runden Tisches von 1990 auf und verpflichtete sich in ihrer Präambel zu Recht, Toleranz und Solidarität. Später hat man das den „Brandenburger Weg“ genannt. In unserer Kompromissbereitschaft haben wir gelernt, uns nicht gegenseitig zu verteufeln.

Sicher war ich auch manchmal einfältig. Den von Berliner Fusionsgegnern als Verleumdung Brandenburgs gedachten Vorwurf „kleine DDR“ etwa durfte ich nicht verniedlichen, sondern musste sehen, dass er böse Erinnerungen an das Rote Meer um Westberlin bediente. Ich habe in der DDR gegen die politische Diktatur für Respekt und Würde für Andersdenkende gekämpft und gelernt, differenziert über Menschen zu urteilen. Ich bin nicht bereit, unter neuen Vorzeichen anders zu handeln.

Ich bin stolz auf das alte Land Brandenburg und seinen Wiederaufbau in den letzten 20 Jahren. Wir haben 47 Industriekerne gesichert und zahlreiche industriebezogene Dienstleistungen ermöglicht. Die Stahlstandorte Eisenhüttenstadt, Hennigsdorf und Brandenburg an der Havel, die Chemieindustrie in Schwarzheide, Schwedt und Guben sowie die Fahrzeugindustrie in Ludwigsfelde haben wir gemeinsam mit den Belegschaften sichern können. Wir haben historische Stadtkerne und die Infrastruktur des Landes innerhalb weniger Jahre rekonstruiert und modernisiert. Wir haben Universitäten gegründet und Forschungsstätten angesiedelt. Wir konnten für Brandenburg Freunde und Förderer im Westen aber auch im Osten diesseits und jenseits der Grenzen gewinnen.

Wir haben von Anfang an auf enge Zusammenarbeit mit Berlin gesetzt. Nach dem Scheitern der Volksabstimmung über die Bildung eines Landes Berlin- Brandenburg haben wir auf vertiefte verbindliche Kooperation gesetzt, die uns zum Beispiel gemeinsame Gerichte, eine gemeinsame Rundfunkanstalt und den Flughafen Berlin-Brandenburg International gebracht hat. Eine übereilte Fusionsdebatte brauchen wir nicht. Aber wir brauchen den entschlossenen Willen zur guten Zusammenarbeit. Die weltweite Globalisierung stellt Anforderungen an die Wettbewerbsfähigkeit, auf die wir gemeinsam antworten müssen. Brandenburg als Flächenland und Berlin als hochverdichtete Metropole ergänzen sich zu einer Region mit vielseitigen Entwicklungspotenzialen. Sie ist unsere Zukunft

Diese Zukunft wird kein Spaziergang. Wir erleben eine starke Differenzierung, ja Polarisierung in der Gesellschaft bei wachsender Armut vieler und wachsendem Reichtum weniger. Das kann zu schweren Verwerfungen führen, wenn nicht stärker auf soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt der Gesellschaft geachtet wird. Die in Berlin weithin gelungene Integration zehntausender Zuwanderer aus anderen Ländern und Kulturkreisen fördert die Attraktivität der Region durch Liberalität und Weltoffenheit.

Wir in Brandenburg müssen diese Entwicklung noch nachvollziehen. Uns fehlt die Erfahrung multikulturellen Zusammenlebens. Die deutsche Identität war im geteilten Land tiefe Überzeugung und auch Hoffnung, selbst bei nach dem Mauerbau Geborenen. Die neue Freiheit nach 1989 brachte Verunsicherungen, Ängste um Arbeitsplätze und die Sorge, zweitklassig in Deutschland zu sein, ja vielleicht sogar drittklassig – nach den vielen inzwischen erfahrenen Bundesbürgern mit ausländischen Wurzeln.

Es kamen Naziführer in den Osten und propagierten Nationalstolz, Rassismus, Ausländerhass und fanden Anhänger. Ich wollte es zunächst nicht wahrhaben, glaubte an Einzelfälle. Ich begriff, dass diese Situation nicht allein mit Polizei und Justiz zu ändern war. Wir brauchten die Unterstützung aller Gutwilligen, aller demokratischen Parteien, aller gesellschaftlichen Organisationen, um ein weltoffenes tolerantes Brandenburg zu schaffen. Wir brauchten einen landesweiten Verbund für Menschenfreundlichkeit.

In diesen Tagen haben wir uns an 15 Jahre Aktionsbündnis gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt erinnert und konnten feststellen, dass viele Menschen weltoffener geworden sind und verstehen, dass das Zusammenleben mit Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe und Kultur für das ganze Land ein Gewinn ist. Das bleibt allerdings eine ständige Aufgabe, wie kürzlich Nazischmierereien an einer Zeitungsredaktion zeigten.

Eine große Herausforderung für Berlin und Brandenburg ist die Konsolidierung ihrer Finanzen. Brandenburg ist bemüht, in wenigen Jahren schuldenfrei zu sein. Berlin hat es da schwerer. Auch weil die Metropole viele Leistungen für Brandenburg und weit darüber hinaus vorhält. Aber die Bereitschaft der finanzstarken Bundesländer und des Bundes zu Unterstützungen nimmt ab. Und der Tag ist nicht mehr fern, an dem Einsparungen und Länderfusionen gefordert werden. Ich erinnere mich noch lebhaft an nächtelange Diskussionen mit den Ministerpräsidenten der Länder um die Verlängerung des Solidarpaktes. Wir sollten die Kooperation zwischen Berlin und Brandenburg ausbauen und uns nicht erst von Bundesregelungen überrollen lassen.

Berlin und Brandenburg sind eine Hauptstadt-Metropolen-Region. Die Politik sollte das gezielter fördern und Journalisten könnten es in ihrer Arbeit mehr berücksichtigen. Es soll Brandenburger geben, die noch nie in Berlin waren. Es soll Berliner geben, die noch nie in Brandenburg waren. Das ist nicht gut, denn gemeinsame Zukunft beginnt beim Kennenlernen, Zuhören und Verstehen. Mit Berliner Kreativität und Internationalität sowie Brandenburger Weite und Beharrlichkeit können wir eine der stärksten Wachstumsregionen in Europa sein. Das darf nicht durch Brandenburger Sturheit und Berliner Hochmut behindert werden.

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