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Die Videokamera der Bank hat den Notfall und die Reaktionen der Kunden aufgezeichnet.

© dpa

Unterlassene Hilfeleistung: Die Mitleidlosen aus der Bankfiliale

Kann man über einen am Boden liegenden Menschen hinwegsteigen, von dem man annimmt, er sei ein betrunkener Obdachloser? Ja, oder? Geht. Eine Kolumne

Eine Kolumne von Ariane Bemmer

Der Mitmensch als Zumutung. Keiner, der einen interessiert, sondern einer, der aufhält und stört.

Ein alter Mann liegt in einer Bankfiliale auf dem Boden, vier Menschen steigen über ihn rüber und erledigen Bankgeschäfte, eine Kamera zeichnet das auf. Im Prozess um unterlassene Hilfeleistung sagen sie, sie hätten gedacht, der Mann sei ein Obdachloser. Eine interessante Erklärung.

Ein Obdachloser ist ein Mensch in Not. Einen Hilfeimpuls löst das nur bei wenigen Menschen aus. Im Gegenteil. Wenn zu der Ohnehin-Not der Wohnungslosigkeit noch eine zweite Notlage hinzukommt, ist es offenbar erst recht egal. Zu den Umständen, unter denen Obdachlose leiden, gehört auch, dass sie unsichtbar werden für die Mehrheitsgesellschaft. Sie und ihre elende Lage kommen nicht mehr vor. Ob das nicht auch Menschen seien, denen man Hilfe angedeihen lassen müsse, hat der Richter im Prozess wütend gefragt. Die Bilder der Kameras zeigen ihm die Antwort.

Warum handeln ganz normale Menschen – die drei Angeklagten waren nicht-vorbestrafte Berufstätige – so? Oder sind sie eben doch nicht ganz normal, wenn sie so handeln? Was sagen Sie, wenn Sie das lesen: Kann man über einen am Boden liegenden Menschen hinwegsteigen, von dem man annimmt, er sei ein betrunkener Clochard? Ja, oder? Geht.

Ohne Mitleid geht die Gesellschaft zugrunde

Motto: Nerv mich nicht mit deinen Problemen, ich habe selbst genug. Die Aufraffung liegt viel eher darin, anzuhalten, sich zu bücken, an die Schulter zu fassen und zu fragen: „Geht es Ihnen gut?“ Vielleicht haut der Angesprochene einem eine runter, packt einen am Kragen, brüllt los, erbricht sich. Lieber abhauen.

Aber so geht die Gesellschaft zugrunde. So geht Gesellschaft überhaupt zugrunde. Zu deren Basisvereinbarung gehört das Miteinander. Ob man Menschen in Not hilft, ist keine Frage der Behaglichkeit. Es ist Pflicht. Und wenn man Angst hat oder unsicher ist, dann kann man Hilfe rufen. Das ist das Mindeste. Interessanterweise wird es so nicht wahrgenommen. Wer hilft, meint oft, er tue etwas Besonderes. Die Rechtsprechung geht aber davon aus, dass das der Normalfall ist. Darum ist unterlassene Hilfeleistung nicht unhöflich, sondern strafbar.

Der alte Mann ist gestorben. Er wäre nach Gutachtermeinung auch gestorben, wenn gleich der erste Bankkunde Hilfe gerufen hätte. Das mag die Nicht-Helfer den Rest ihres Lebens trösten. Zwei von ihnen haben sich vor Gericht geschämt. Zwei weniger, die beim nächsten Mal nicht helfen.

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