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Politik: "Urban 21": Angesichts der explodierenden Mega-Cities müssen die reichen Industrienationen ihre Politik ändern

Zwei Bahnstunden trennen Berlin und Hamburg voneinander. Dazwischen liegt eine Landschaft mit Wiesen, Weiden und Wäldern.

Zwei Bahnstunden trennen Berlin und Hamburg voneinander. Dazwischen liegt eine Landschaft mit Wiesen, Weiden und Wäldern. Zwischendrin Dörfer und Städtchen. Eine Bilderbuchgegend, in der dichtbesiedelte Großstadt und ländliche Region offenbar noch miteinander harmonieren.

Für das Gros der mittlerweile überwiegend in den Städten wohnenden sechs Milliarden Menschen ist die Realität zwischen Istanbul und Kapstadt, Kairo, Shanghai und Sao Paulo noch eine völlig andere. Während die europäischen Städte mit der Abwanderung der Gutsituierten ins Umland vergreisen und erstmals gar von "Verslumung" die Rede ist, verläuft die Entwicklung in der so genannten Dritten Welt genau entgegensetzt. Die Städte können sich vor Zuwanderung kaum retten. In Massen treiben ökologische Katastrophen, ungerechte Bodenverteilung und die damit einhergehende Aussichtslosigkeit auf berufliche Chancen die Landbevölkerung in die großen Städte.

Eine gigantische Völkerwanderung setzt sich seit Jahren in Bewegung, einzig von der Einsicht getrieben, dass es im Schatten der Niederlassungen national und global operierender Wirtschaftsgiganten auf alle Fälle nicht schlimmer werden kann. Es ist eben schon ein Unterschied, ob man auf dem Lande kilometerweit laufen muss, um Wasser zu holen, während man in der Stadt nur den Wasserhahn aufzudrehen braucht, um das vom Land angezapfte Nass zu bekommen. Die Chancenungleicheit zwischen Stadt und Land wird zuweilen an ganz simplen, aber existenziellen Erfahrungen wahrgenommen. Sie zeigen dem einfachen Bauern, dass die Riesenstadt auf Kosten der ländlichen Umgebung lebt. Sie tut es nicht nur dort, aber anders als zwischen Los Angeles und Berlin. Angesichts dieser krebsgeschwürartigen Wucherungen um die weißen Türme des Kapitaladels herum noch ernsthaft von Städten zu reden, ist dort noch mehr geschmeichelt als zwischen Moskau und San Francisco. Eher sind es Anhäufungen wie Kairo etwa, wo 15 Millionen Menschen im Gestank und Dreck vegetieren.

Trotz dieser Gegensätze und Abgründe kommt der anlässlich der Weltkonferenz "Urban 21" veröffentlichte "Weltbericht zur Zukunft der Städte" einer internationalen Expertenkommission zu der Erkenntnis, dass "die Zukunft der Menschheit in den Städten" liege, weil im 21. Jahrhundert die Megastädte mit zwanzig oder gar dreißig Millionen Einwohnern die Rolle der Nationalstaaten übernähmen. "Die zentrale Herausforderung für das neue Jahrhundert", heißt es, bestehe darin, "das städtische Wachstum zugunsten eines wirtschaftlichen Fortschritts zu beeinflussen, es mit ökologisch nachhaltigen Entwicklungsanforderungen zu vereinbaren und dabei Ausgrenzungen zu verringern." Auch sonst liest sich die Analyse mit ihren Stadtszenarien wie eine Mischung aus Kochbuch und Bedienungsanleitung für einen Staubsauger. "Alles ist so generalisiert, dass man es nicht greifen kann", kritisierte unter anderen der Wissenschaftler für Stadtplanung Peter Marcuse von der Columbia University den "Weltbericht".

Stillstand der Erkenntnis

Hinter der wohlfeilen Selbstgewissheit des Druckwerks stößt man unversehens auf eine erschreckende Verzerrung der Wahrnehmung und einen Stillstand der Erkenntnis. Beides bestätigte sich auch während des Weltkongresses "Urban 21" der über 3100 internationalen Teilnehmer dieser Woche im Internationalen Congress Centrum. Das Reden von der Bürgergesellschaft als Akteur zwischen Politik und Wirtschaft, von der Beteiligung der Armen, von finanzieller Entschuldung und Umverteilung bis hin zur Forderung nach einer neuen Wirtschaftsordnung, all das ist bekannt und war somit nichts Neues. Zuletzt debattierte man darüber 1996, während der Weltstädtekonferenz Habitat II in Istanbul.

Und schon zwischen 1968 und 1986 hatte das als Club of Rome bekannte internationale Forum von Wissenschaftlern, Wirtschaftsführern und Politikern den inneren Zusammenhang von wirtschaftlichem Wachstum, Bevölkerungsexplosion, Natur- und Landschaftszerstörung, Landflucht und Massenarmut zutage gefördert. Von den Grenzen des Wachstums, weltweiter sozialer Gerechtigkeit und Bildung war allenthalben die Rede, wenn es um die Frage nach einem Überleben des Planeten ging. Einsichten, die 1992 zum ersten UN-Weltgipfel der Staatsmänner in Rio de Janeiro und zur Agenda 21 als Manifest und Handlungsanleitung führten. Vor fast zehn Jahren wurde nicht nur der Begriff der nachhaltigen Entwicklung, des sustainable development, als Inbegriff für Ressourcen schonendes Wirtschaften in allen seinen Facetten geboren, sondern auch die daran gekoppelte Order "global denken, lokal handeln" ausgegeben.

Die Anforderungen sind also seither unmissverständlich und wurden auf dem jüngsten Weltkongress vor allem auch von jenen schonungslos wieder aufgerufen, die in so genannten grass roots-Organisationen mit den Besitz- und Rechtlosen arbeiten. "Ich höre von Nachhaltigkeit, aber was passiert, ist das krasse Gegenteil", kritisiert Kirtee Shah, Präsident der Internationalen Habitat Koalition, einer dieser regierungsunabhängigen Organisationen. Zweifelsohne lassen sich im Kampf gegen die eklatanten Missstände Erfolge vorweisen. In Rio de Janeiro etwa, wo unter anderem dank finanzieller Unterstützung der Weltbank mit dem "Favela-Bairro-Programm" Slums in menschenwürdige Wohnsiedlungen inklusive Kindergärten und Schulen umgewandelt wurden. Oder die Sanierung des Abwassernetzes und die Wiederaufforstung von 870 Hektar Hügelland - finanziert von der japanischen Regierung. Doch sie zeigen auch, dass die Entwicklungsländer nach wie vor kein Geld für solche Projekte haben, dass sich im Ganzen die urbane Lebenssituation der Massen kaum gebessert hat und sich alles schlimmstenfalls als Sisyphosarbeit entpuppt. Denn die Zuwanderung in die Agglomerationen hält unvermindert an.

Milliarden Autofahrer

An der rasanten zentralistischen Verstädterung sind die Gesetzmäßigkeiten westlicher Wirtschaftsparadigmen entscheidend mitverantwortlich. Es drängt sich der Verdacht auf, dass unter dem Stichwort der Globalisierung die Maxime vom globalen Denken und lokalen Handeln unter ausschließlich wirtschaftlichen Vorzeichen umgekehrt wurde. Shanghai und Kuala Lumpur sind dafür die extremsten Beispiele. Für den Umbau Shanghais zu einem futuristischen Wirtschaftszentrum der global player war man auch bereit, für Hochhäuser, Autobahnen und U-Bahnen notfalls alte gewachsene Stadtstrukturen zu zerstören. Jeb Brugmann resümiert deshalb: "Die Städte werden von der Wirtschaft überrollt." Das lapidare Fazit des Generalsekretärs der Internationalen Versammlung für lokale Umweltinitiativen in Toronto und die Rede Marcuses, der "von einer inneren Verzahnung von Verlierer- und Gewinnerstädten" spricht, verweisen unmissverständlich auf die Verantwortung der wohlhabenden Industrienationen für diese Missstände. Nicht auszudenken, wenn eines Tages über zwei Milliarden Inder und Chinesen über denselben materiellen Wohlstand verfügen können und Auto fahren, wie wir das gegenwärtig tun. Ein Narr ist der, wer den Drittländern einen Wohlstand vorenthalten will, den wir hier tagtäglich auf Kosten anderer ausleben. Denn immer noch verbrauchen die bevölkerungsärmeren Wohlstandsnationen das Zehnfache an Energie und unverhältnismäßig mehr Land als die Entwicklungsländer.

An dem Faktum hat sich seit 1992 nichts verändert. Erdbeeren aus Südafrika und Bohnen aus Ägypten zum selben Preis, als wären sie in der Nachbarschaft geerntet, ist nur ein Beispiel dafür, dass die Kosten unseres Handels nicht im geringsten die ökologische Wahrheit sagen. Und das ist nur die Spitze des Eisberges jener Globalisierung, die sich anschickt, im wirtschaftsliberalen laissez-faire der Marktkräfte der Dritten Welt als Vorgarten für ihre Konsumbedürfnisse zu bedienen. Von daher erklärt es sich, weshalb der "Weltbericht" die Verstädterung der Giganten als "unaufhaltsam" hinnimmt. Die Konzentration des helfenden Kapitalflusses in die Megastädte damit zu begründen, dass sich angeblich die Investitionen gegen die ländliche Verelendung als Fass ohne Boden erwiesen haben, wäre zynisch. Solches Ansinnen wird vor allem von den nichteuropäischen und nordamerikanischen Experten scharf kritisiert, weil Ursache und Wirkung verdreht werden.

Wenn es denn eine Betrachtungswende bei der hiesigen Konferenz gegeben hat, dann bestand sie in der Erkenntnis, dass für gesunde Großstädte stabile Dörfer und Landstädte unabdingbar sind. Denn ansonsten könnte sämtliche Metropolen das Schicksal jener blühenden Stadt am Indus ereilen, von der Archäologen herausfanden, dass sie vor 4000 Jahren an Überbevölkerung und Verslumung zugrunde ging, nachdem sie alle Ressourcen des Umlandes verbraucht hatte.

Ansgar Oswald

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