zum Hauptinhalt

Politik: Viele Menschen flüchten vor den Russen

Regen prasselt auf die Verkaufstische. Kein Mensch ist auf dem Markt von Grosny.

Regen prasselt auf die Verkaufstische. Kein Mensch ist auf dem Markt von Grosny. Ein paar wilde Hunde balgen sich um Abfälle. Wenn der Basar geschlossen ist, so heißt eine orientalische Spruchweisheit, drohen Pest oder Krieg. Der Markt ist seit Montag geschlossen. Nur vor den Brotläden der tschetschenischen Hauptstadt bilden sich lange Schlangen. Doch niemand darf mehr als acht Laibe mitnehmen. Das ist zu wenig für die Flucht ins Ungewisse.

Die meisten Frauen und Kinder haben die Stadt schon verlassen. Adams Familie gehört zu den Nachzüglern. Büchsen mit Kindernahrung für die kleine Hava stapeln sich unter den Rücksitzen. Birlant, Adams Frau, wirft einen letzten Blick auf das bescheidene Anwesen. Birlant und Adam hatten dafür 1994 sogar Schulden gemacht. Dann kam der Krieg, der erste, und wo einst ihr Haus stand, gähnte ein Bombentrichter. Die Verwandtschaft half beim Wiederaufbau. Erst im letzten Winter konnte die Familie wieder einziehen. Im Frühjahr pflanzte Adam im Hof etwas Wein und einen Granatapfelbaum. "Wenigstens einmal hätte ich so gern gesehen, wie er blüht", sagt Birlant.

Jetzt wissen sie und ihr Mann weder, wann sie zurückkehren, noch, wohin die Flucht gehen soll. Vor fünf Jahren hatte Adam seine Familie in das Dorf in den Bergen an der georgischen Grenze gebracht, wo Birlant geboren ist. "Dorthin können wir nicht mehr", sagt Birlant. "Dort fallen täglich Bomben, weil die Islamisten da ihre Lager haben." Adam will deshalb in die Nachbarrepublik Inguschetien. Gegen Morgen setzt sich das überladene Auto in Bewegung.

Weit dürften Adam, Birlant und ihre drei Kinder nicht kommen. Noch im Sommer war die Grenze zwischen dem Land der Tschetschenen und Inguschen, die eng miteinander verwandt sind und bis 1991 sogar eine gemeinsame Republik bildeten, eher eine gedachte Linie. Jetzt legen sich, zumindest in der Ebene, Stacheldrahtverhaue wie eine hässliche Narbe über die Wiesen und Felder zu beiden Seiten der Fernverkehrsstraße Rostow-Baku. Schon 15 Kilometer vor dem ersten Kontrollposten stauen sich die Autos. Nur ethnische Russen dürfen in die Region Stwaropol ausreisen, die im Norden an Tschetschenien grenzt. Die Grenze zu Dagestan im Osten dürfen nur Angehörige der dagestanischen Völker passieren. Den Tschetschenen bleibt nur die Flucht nach Westen - nach Inguschetien.

Das ist Russlands kleinste und ärmste Republik. 300 000 Menschen leben dort. Seit Moskau Tschetschenien bombardiert, sind 60 000 Flüchtlinge dazugekommen. Bis zum Wochenende rechnet die inguschische Regierung mit 200 000 Flüchtlingen.

Aus Furcht vor neuen Terroranschlägen in russischen Großstädten werden alle Fahrzeuge kontrolliert. Manche Flüchtlingsfamilien warten an den Kontrollpunkten zwei bis drei Tage. Seit vorgestern dürfen PKWs mit tschetschenischen Kennzeichen passieren. Allerdings müssen die Fahrer sowie alle Männer im wehrfähigen Alter Inguschetien im Laufe von 24 Stunden wieder verlassen.

Auch Fatima ist auf der Flucht. Ihre Vorräte sind aufgebraucht. Sie und ihre Kinder sind seit zehn Tagen unterwegs. Gersel, ihr Heimatdorf, liegt unmittelbar an der dagestanischen Grenze. "Wenn die Russen einmarschieren, sind wir zwischen den Fronten", sagt sie.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false