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Beobachtungen vom Wahltag: Viele Raketen – und ein wenig Hoffnung

Menschen können sich innerhalb kurzer Zeit an vieles gewöhnen. Zum Beispiel an die Geschosse, die im Laufe des Wahltags in der nordafghanischen Provinz Kundus in der Nähe der Wahllokale einschlugen. Mindestens fünf Raketen waren es tagsüber in Kundus-Stadt. Drei Kinder und zwei Erwachsene wurden dabei verletzt.

Eines der Geschosse schlug deutlich hörbar ein paar hundert Meter entfernt von einer zum Wahllokal umfunktionierten Schule auf einem Feld ein. Rauch stieg auf. Viele Menschen waren zu dem Zeitpunkt unterwegs. Für Sekunden herrschte Verwirrung. Doch die meisten ließen sich nicht beirren.

Den ganzen Tag waren ähnliche Detonationen in und um die Stadt zu hören, insgesamt mögen es um die dreißig gewesen sein. Dennoch gingen die Menschen weiter in die Wahllokale. Von wem die Geschosse abgefeuert wurden, war nicht immer klar auszumachen. Taliban oder die Handlanger in ihren Diensten, die gegen Geld Raketen abfeuern, sind Legion. Am Donnerstagnachmittag beteiligte sich auch das deutsche Militär am Beschuss von mutmaßlichen Talibanstellungen in einem Bezirk zehn Kilometer außerhalb der Stadt, berichtete ein Mitglied der afghanischen Wahlkommission.

Auf dem Land und in den Dörfern der Provinz Kundus konnte keine geordnete Wahl stattfinden. Es fehlte an Polizei und Soldaten, nur selten waren unabhängige Beobachter vor Ort. Die offizielle Liste der geöffneten Wahllokale war von Anfang an trügerisch formuliert, um zumindest in der Öffentlichkeit ein gutes Bild abzugeben. In der Stadt Kundus hingegen verlief der Wahltag vergleichsweise unbeirrt. Natürlich bleiben auch hier Menschen zu Hause, vor allem Frauen. Abgesehen von der Mittagszeit waren viele Wahllokale gut besucht, zum Teil standen die Menschen am Vormittag Schlange.

Die meisten Afghanen behaupten im Gespräch, sie kennen keine Furcht. Krieg gehöre zu ihrem Alltag und begleite ihr Leben seit jeher. Fast inflationär finden sich solche Zitate in westlichen Medien. Oft werden sie missinterpretiert als eine Form von naivem Heroismus.

Aber gerade jüngere Menschen sind auf unaufgeregte Art entschlossen, dazu beizutragen, dass ihre Gesellschaft sich verändert. Eine 18-jährige Journalistin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, hat überhaupt kein Verlangen, andere Länder zu sehen. Zumindest nicht jetzt. Weder Iran noch Europa oder die USA. Nicht weil der Westen ihr nichts bieten könnte. Sondern weil sie schon jetzt jeden Tag Möglichkeiten und Grenzen durchmisst, in einem Leben, in dem sie ein großes Ziel vor Augen hat. Sie will Staatsanwältin werden.

Der Journalismus ist für sie eine Zwischenstation. Täglich berichtet die junge Frau über all das, was nicht machbar ist für Frauen in Kundus. Ihren Optimismus schöpft sie aus vielen kleinen Veränderungen im Alltag. Einige ihrer Interviews werden im Radio gesendet und so zum Stadtgespräch. Aber ihr kleiner Bruder hat Angst. „Du bringst uns noch alle um“, wirft er seiner engagierten Schwester vor. Die 18-Jährige macht trotzdem weiter.

Vieles im afghanischen Alltag ist ein Kampf gegen die Angst, sei sie real oder nur eingebildet. Es ist schwer zu sagen, wie groß die Gefahr für Leib und Leben wirklich ist. Sich an die Maßstäbe der Bundeswehr zu halten, ist dabei nicht immer der beste Rat. „Wenn die Militärs mit ihren gepanzerten Fahrzeugen durch die Innenstadt rollen und ein Kind dabei zu Schaden kommt, zerstört das in einem einzigen Moment unsere Arbeit von mehreren Monaten“, sagt ein deutscher Entwicklungshelfer in Kundus.

Abgesehen vom Vertreter des Auswärtigen Amtes, in Zivil unterwegs, waren am Wahltag keine Ausländer in Kundus anzutreffen. Die Wahlbeobachter der EU, ein knappes Dutzend an der Zahl, saßen den ganzen Tag im Bau der afghanischen Wahlkommission, heißt es. Sie ließen sich dort von afghanischen Mitarbeitern von der Wirklichkeit draußen berichten.

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