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Politik: „Vielleicht wird Öcalan ja noch Abgeordneter"

Die türkischen Parlamentarier schaffen die Todesstrafe ab – obwohl sie dem PKK-Chef damit das Leben retten

Von Thomas Seibert, Istanbul

Wenn die türkischen Rechtsnationalisten so richtig auf den Putz hauen wollen, dann muss Mehmet Gül ran. Der bullige Abgeordnete mit der Reibeisen-Stimme ist bekannt für seine scharfe Rhetorik, und deshalb wurde Gül auch am Freitag in der historischen Debatte des türkischen Parlaments über die Abschaffung der Todesstrafe von seiner Partei in die Schlacht geschickt. „Wir verzeihen ihm nicht“, sagte Gül über den PKK-Chef Abdullah Öcalan, der nach der Zustimmung des Parlaments zu der Reform dem Galgen entgehen wird. „Warum verzeihen sie ihm?“ fuhr Gül die pro-europäischen Parteien im Saal an und fügte bissig hinzu: „Vielleicht wird Öcalan ja sogar eines Tages als Abgeordneter im Plenum auftauchen.“

Die Entscheidung gegen die Todesstrafe fiel den Abgeordneten nicht leicht, denn Öcalan wird von den meisten Türken für den Tod von mehr als 35 000 Menschen verantwortlich gemacht. Dass ausgerechnet ihm nun das Leben geschenkt wird, weil die EU entsprechende Reformen fordert, geht vielen gegen den Strich. Vielen, aber nicht der Mehrheit: Am Ende stimmten 256 Abgeordnete für die Abschaffung der Todesstrafe, 162 dagegen.

Warum das so war, machte besonders die konservative Partei des Rechten Weges (DYP) von Ex-Ministerpräsidentin Tansu Ciller klar. Der DYP-Abgeordnete Mehmet Saglam zählte in der Debatte wie andere Redner auch die vielen Toten und den hohen wirtschaftlichen Schaden durch den 15 Jahre langen Krieg der Armee gegen die PKK auf. Doch am Ende rief er aus: „Wir stimmen trotzdem mit Ja, weil wir uns von einem Terroristenchef keine Hypothek auf unsere Zukunft aufladen lassen wollen!"

Die Europa-skeptischen Nationalisten werden im Wahlkampf für die Parlamentswahlen im November die Abstimmung vom Freitag mit großer Sicherheit als unpatriotische Unterwerfungsgeste Richtung Brüssel hinstellen. Noch vor einigen Jahren wäre es in der Türkei unmöglich gewesen, der Schlagkraft eines solchen Argumentes zu entgehen. Deshalb ist es beachtlich, dass eine Mehrheit im Parlament nun glaubt, heutzutage eher mit dem pro-europäischen Votum gegen die Todesstrafe Wähler gewinnen zu können als mit der nationalistischen Forderung, Öcalan aufzuhängen.

Das gilt nicht nur für das Thema Todesstrafe, sondern auch für die anderen Bestandteile des Reformpakets für den EU-Beitritt, über das die Nationalversammlung am Freitag bis spät in die Nacht beriet. Nach den Gesetzentwürfen sollen die Kurden die Möglichkeit erhalten, Fernseh- und Rundfunksendungen in ihrer Sprache zu verfolgen und ihre eigene Sprache in Privatschulen zu lernen. Außerdem soll die Meinungsfreiheit erweitert, das Demonstrationsrecht gestärkt und die Polizei stärker als bisher zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet werden.

Von allen Reformentwürfen war das Ende der Todesstrafe jedoch der umkämpfteste. Dabei war die Notwendigkeit der Abschaffung jedem Einzelnen im Plenum klar: Schließlich war die Türkei bis zum Freitag der einzige Staat im Europarat, der sie noch in seinen Gesetzbüchern verankert hatte. Der angeschlagene Ministerpräsident Bülent Ecevit sprach nach der Parlamentsentscheidung von einem wichtigen Schritt auf dem Weg nach Europa. Dass die Todesstrafe die EU-Bewerbung der Türkei bisher behinderte, wisse doch jeder, sagte Ecevits Parteifreund Yekta Acikgöz in der Debatte: „Es ist nicht so, dass uns die EU einlädt – wir wollen doch selbst rein."

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