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Politik: Vom Recht, Nein zu sagen

Von Christoph von Marschall

Jetzt kommen sie uns pädagogischmoralisch, und das auf den letzten Drücker. Sonntag ist Europawahl, da muss man doch hingehen! Wählen sei Bürgerpflicht, mit dem Stimmzettel könne man Einfluss nehmen, und überhaupt sei Europa inzwischen wichtiger für unseren Alltag als die nationalen Regierungen und Parlamente – über die Hälfte der deutschen Gesetze sind Folge europäischer Vorgaben.

Aber mal ehrlich: Warum sollen wir das plötzlich glauben? Den Wahlkampf haben die Parteien mit nationalen Themen geführt, nicht mit Europa. Wenn es wirklich um etwas ging in den letzten fünf Jahren – Euro, Haltung zum Irakkrieg, Ost-Erweiterung, Bruch des Stabilitätspaktes –, war der nationale Egoismus wichtiger als die Suche nach einem gemeinsamen Standpunkt. Uns Bürger jedenfalls hat man nicht gefragt. Schon gar nicht hatten wir die Möglichkeit, zu irgendetwas Nein zu sagen. Es gibt keine Anti-Europa-Partei in Deutschland, nicht einmal eine ausgesprochen integrationsskeptische, wie in Großbritannien oder Polen. Da ist es kein Wunder, dass die Bürger nicht zur Europawahl gehen – denn das Recht, Ja zu sagen, bekommt seinen Wert erst durch die Option, auch Nein sagen zu dürfen. Die Wahl lebt von der Wahl.

Weil wir die aber nicht haben, wird auch dieser Sonntag an unserer inneren Ferne zu Europa nichts ändern. Im Gegenteil, er wird uns im Gefühl der Unabänderlichkeit der Integration und unserer Einflusslosigkeit bestärken. In den Wahlsendungen am Abend und den meisten Montagszeitungen wird wenig von den Folgen für Europa die Rede sein. Die gibt es zwar, aber sie lassen sich nicht in zwei, drei knackige Aussagen pressen. Nein, das Ergebnis wird als wichtiger Stimmungstest für Gerhard Schröder und Angela Merkel gedeutet werden, genau wie die Landtagswahl in Thüringen und die Kommunalwahlen in weiteren sechs Bundesländern. Und wenn die Beteiligung an der Europawahl nicht unter 40 Prozent abstürzt (nach 62,3 Prozent 1989, nach 60 Prozent 1994 und 45,2 Prozent 1999), dann wohl, weil diese parallelen Abstimmungen in sieben Bundesländern die Menschen in die Wahllokale ziehen. Zu Bundestagswahlen gehen um die 80 Prozent, die nationale Politik bleibt der entscheidende Bezugspunkt.

Kann man das ändern – und soll man es? Die Politik diskutiert zwei Wege. Sie unterstreicht vor dem Wahltag die Bedeutung der EU und will die Europawahl durch stärkere Personalisierung attraktiver machen. Bürger sollen Kandidaten auf den Listen streichen oder auf eine bessere Position setzen dürfen, und es soll europäische Listen mit Spitzenkandidaten nach dem nationalen Modell geben.

In der Tat ignorieren die Bürger den Einfluss der EU auf Konsumentenschutz, Arbeitsmarkt, Industriepolitik, internationalen Handel, Urlaubs- und Reisebedingungen – kurzum auf ihr tägliches Leben vom Geld über den Job bis zur Freizeit. Sie müssten das lernen, um nicht nur passive Konsumenten, sondern aktive Bürger zu sein. Aber das ist mühsam. Europa ist kompliziert, die Verantwortung für gute oder schlechte Entscheidungen lässt sich in einer EU mit 25 Mitgliedsstaaten noch weit schwerer lokalisieren als in der Bundespolitik.

Auch die Personalisierung wird wenig helfen. Natürlich ist der Wahlzettel, auf dem die Berliner CDU eine Landesliste mit zehn Namen präsentiert, absurd, wenn doch nur der erste überhaupt eine Chance hat. Die anderen Parteien treten wenigstens mit Bundeslisten an. Die Grünen haben sogar einen europäischen Spitzenkandidaten gekürt, aber erweckt das nicht einen falschen Schein? Europa funktioniert nicht wie das nationale Modell. Der Spitzenkandidat der Wahlsieger wird nicht Regierungschef, sondern Fraktionsführer im Parlament. Den Kommissionspräsidenten bestimmen die 25 nationalen Regierungschefs und nicht die von uns gewählten Parlamentarier.

Um Europa werden sich die Bürger nur sorgen, wenn sie es nicht hinnehmen müssen, sondern zu seinen Projekten ihre Meinung klar machen können. Sie brauchen Europa nicht als Elitenprojekt, als eines von oben, sie brauchen die Debatte um seine Zukunft. Wir Bürger wollen die Wahl haben. Die Wahl, Ja zu sagen.

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