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Politik: Von der Fahne gegangen

Die türkische Regierung erhält keine Mehrheit für ihren Stationierungsbeschluss – Washington muss bangen

Wenn die Generalprobe gelingt, ist das nicht nur im Theater ein schlechtes Zeichen. Lediglich 30 Abweichler zählte die Führung der türkischen Regierungspartei AKP, als sie am Samstagvormittag ihre Parlamentsfraktion zur Probe über den Antrag zur Stationierung von US-Kampftruppen im Land abstimmen ließ. Bei einer Fraktionsstärke von 363 Sitzen keine kritische Quote. Doch als einige Stunden später im Plenum in nicht öffentlicher Sitzung die echte Abstimmung folgte, ging fast ein Drittel der AKP-Fraktion von der Fahne: Nur 264 Abgeordnete stimmten für den von ihrer eigenen Regierung eingebrachten Stationierungsbeschluss. Das waren drei Stimmen weniger, als für die Mehrheit erforderlich gewesen wäre. Eine Blamage für Ankara. Es dauerte eine Weile, bis allen Beteiligten das Ausmaß der Katastrophe klar wurde. Zunächst versuchte die AKP-Spitze verzweifelt, das Ergebnis schön zu rechnen. Dann trat Ministerpräsident Abdullah Gül vor die Presse und sagte zerknirscht, das Ergebnis müsse respektiert werden. Gül sah müde und zermürbt aus – sein gewohntes freundliches Lächeln hatte ihn verlassen.

In Washington verbreitete das US-Außenministerium bereits frohgemut einen Glückwunsch an die Türkei zur geglückten Stationierungsentscheidung – bevor den Amerikanern dämmerte, dass etwas schiefgelaufen war. „Was haben die denn gemacht?“, fragte ein US-Beamter im Außenministerium ungläubig. Gül und sein Außenminister Yasar Yakis werden den ohnehin sehr ungeduldig gewordenen Verbündeten in Washington einiges zu erklären haben, auch wenn zunächst keine der beiden Seiten von einer Krise in den Beziehungen sprechen wollte.

Seit Monaten hatte Washington auf die Truppenstationierung gedrungen, weil nur nach einem Durchmarsch über die Türkei in den Nordirak ein wirkungsvoller Angriff auf Bagdad von Norden her möglich wäre. Gemeinsam mit den in Kuwait stationierten US-Einheiten könnte diese „Nordfront“ die Truppen Saddam Husseins in die Zange nehmen. Bis zu 62 000 US-Soldaten und mehr als 300 Flugzeuge und Hubschrauber sollten zusätzlich in die Türkei verlegt werden. Rund 20 Schiffe der Amerikaner mit Truppen und Waffen an Bord kreuzen bereits im östlichen Mittelmeer. Sie sollten in den nächsten Tagen in den türkischen Häfen Mersin und Iskenderun anlegen; doch daraus wird nun erst einmal nichts.

Möglicherweise werden die USA den Feldzug gegen Saddam Hussein ganz ohne die Türkei planen müssen. Die meisten Türken wird das freuen. Rund 50 000 Menschen demonstrierten in Ankara gegen den Irakkrieg, während das Parlament hinter verschlossenen Türen tagte. „Das Volk stoppt den Krieg", hieß es auf einem Transparent. Umfragen zufolge sind mehr als 90 Prozent der Türken gegen einen Krieg, und das zeigte sich auch im Plenum. Oppositionspolitiker wollten ein Anti-Kriegs-Plakat entrollen, wurden vom Parlamentspräsidenten aber daran gehindert. In der Sitzung wurde offenbar heftig diskutiert: Ein Abgeordneter musste wegen eines Schwächeanfalls ins Krankenhaus gebracht werden.

Die AKP-Führung hatte in einwöchigen Fraktionsberatungen versucht, ihre skeptischen Abgeordneten zu überreden. Gül betonte vor der Abstimmung mehrmals, auch er lehne einen Krieg im Nachbarstaat Irak ab. Die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Türkei könnten aber nicht durch eine Ohne-Mich-Politik gesichert werden. In der AKP-Fraktionssitzung vor der Parlamentsabstimmung betonte Parteichef Recep Tayyip Erdogan insbesondere die wirtschaftlichen Nachteile, die bei einem Nein des Parlaments auf die Türkei zukämen. In Verhandlungen mit den USA verständigte sich die Regierung auf ein Paket von Wirtschaftshilfen, das Ankara verbilligte Kredite von bis zu 30 Milliarden Dollar ermöglichen soll.

Doch auch das finanzielle Argument reichte nicht aus, um die Revolte in der AKP zu stoppen. Besonders viele Abgeordnete aus dem Osten und Südosten der Türkei – den an Irak grenzenden Regionen – stimmten gegen die eigene Regierung: Sie bekommen in ihren Wahlkreisen immer wieder zu hören, was die Bevölkerung von Güls Beteiligungsplänen hält. Doch aufgeben will die Regierung noch nicht. Sie überlegt, ob sie den Stationierungsbeschluss in der kommenden Woche erneut ins Parlament einbringen soll. In diesem Fall würde dann ja die verunglückte Abstimmung vom Samstag als Generalprobe zählen.

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