zum Hauptinhalt

Politik: Vorwärts und alles vergessen - Gerhard Schröders Berliner Republik will sich mit keiner Vergangenheit belasten (Kommentar)

Das Wort "Volksgemeinschaft" haben die Nazis gerne benutzt. Steckt nicht trotzdem etwas Richtiges in diesem Wort?

Das Wort "Volksgemeinschaft" haben die Nazis gerne benutzt. Steckt nicht trotzdem etwas Richtiges in diesem Wort? Der Gedanke, zu irgendeiner Gemeinschaft zu gehören, ist uns fremd geworden - wir sind Individualisten, verantwortlich nur für uns selber. Sogar das Gefühl der Verantwortung für die nächsten Angehörigen hat nachgelassen: Ihre Kinder haben viele Eltern bekanntlich aus ihrem Alltag hinausorganisiert, unsere Alten wohnen im Altenheim. Was zählt, ist das Hier und Heute, nicht nur in Deutschland.

Diese gesellschaftliche Entwicklung höhlt auch die sogenannte Holocaust-Gedenkkultur allmählich aus, bis nur noch eine äußere Hülle von ihr übrig ist. Was bedeuten uns noch Feiertage, Rituale, Traditionen oder ein historisches Erbe? Wenig. Es wäre schon ein kleines Wunder, wenn ausgerechnet das unangenehme historische Erbe des Massenmordes an den Juden von dieser Entwicklung ausgespart bliebe vom großen Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit.

Die Generationen, die in Deutschland jetzt Macht ausüben, tragen keine persönliche Schuld am Holocaust. Überraschenderweise macht diese Tatsache den Umgang mit der Vergangenheit nicht leichter. Die Zeit der konkreten Schuld ist vorbei, jetzt beginnt die Zeit der Verantwortung. Historische Verantwortung für die Taten der Vorfahren - das kommt auch bei anderen Nationen vor, zum Beispiel bei den ehemaligen Kolonialmächten. Aber Verantwortung ist eine unmoderne Tugend. Gerhard Schröder ist modern.

Der sterbende Ignatz Bubis hat in seinem letzten großen Interview versucht, die Dinge beim Namen zu nennen. In Deutschland lässt die historische Scham nach und macht der Routine Platz. So empfand es Bubis. Paradox ist die Tatsache, dass es sich dabei nicht um eine Folge von neonationalen Gefühlsaufwallungen, von Verdrängung oder von revisionistischen Gedankenspielen handelt. Die erste Generation der Berliner Republik ist kosmopolitisch, liberal und aufgeklärt, sie erfüllt ihre Gedenkverpflichtungen. Es interessiert sie nur nicht sonderlich. An der Bundestagsdebatte um das Holocaust-Mahnmal hat der Kanzler sich nicht beteiligt, zur Beerdigung von Bubis ist er nicht gefahren. Helmut Kohl war da anders. Bei geschichtsbewussten Konservativen ist die Verantwortung für die deutsche Vergangenheit manchmal besser aufgehoben als bei der ehemaligen Linken, die sich heute nicht mehr links nennt, sondern "modern".

Woran haben wir, die Kinder der Bonner Republik, uns selber als Deutsche erkannt, im Unterschied zu den anderen Völkern? Mit zwölf oder vierzehn Jahren erfuhren die Kinder von dieser Sache; für viele war das ihr erstes politisches Erlebnis. Dann schämten sie sich, wie Adam und Eva in der biblischen Geschichte. Adam und Eva aßen vom Baum der Erkenntnis und sahen, dass sie nackt waren. Auf ähnliche Weise wurden wir zu Deutschen.

Spätestens seit den 70er Jahren hat also die Bonner Republik ihre Identität aus dem Holocaust abgeleitet - ein schwarzes Nationalepos. Mag sein, dass es so nicht weitergehen konnte, weil auch die Deutschen einen positiven Bezug zu ihrer nationalen Identität brauchen. Mag sein, dass die Berliner Republik tatsächlich einen neuen, besseren Mythos braucht. Woraus er bestehen könnte, weiß man allerdings nicht. Das dick aufgetragene Pathos Helmut Kohls durch ebenso dick aufgetragene gute Laune zu ersetzen, wird jedenfalls nicht genügen.

Was könnte die Funktion der Holocaust-Gedenkkultur sein, in 100 Jahren zum Beispiel? Die naheliegende Antwort heißt: Daran zu erinnern, dass ähnliches nie wieder geschehen darf. Darüber hinaus gibt es beim historischen Gedenken immer eine zweite, abstraktere Ebene. Wer sich erinnert, begreift sich selbst als Ergebnis einer Vergangenheit. Die erste Führungsgeneration der Berliner Republik aber hat den Bruch mit ihrer Vergangenheit zum Lebensprogramm gemacht. Auf die Abrechnung mit den tatsächlichen oder vermeintlichen Nazivätern folgte meist eine Kehrtwendung in der eigenen politischen Biographie, die der eine als Sozialist, ein anderer als Maoist, der dritte als Sponti begonnen hat. Jetzt regieren sie, und all das, was früher war, empfinden sie als Erblast. Nichts fällt dieser Generation so schwer wie das Erinnern.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false