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Wahlkampftagebuch, Teil 10: Schwarz-gelbe Schicksalswahl

Das politische Erdbeben, das die Wähler in Nordrhein-Westfalen auslösen könnten, wird in ganz Deutschland zu spüren sein. Sechs Szenarien für den Ausgang der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und welche Folgen sie für Düsseldorf und vor allem für Berlin haben könnten.

Die Spannung steigt. Das überraschende Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) und Herausfordererin Hannelore Kraft (SPD) in Nordrhein-Westfalen geht auf die Zielgerade. Noch rund 80 Stunden dauert der Wahlkampf. So eng liegen die Parteien und die Lager beieinander, dass der Wahlausgang am 9. Mai noch völlig ungewiss ist. Am Sonntag sprechen die insgesamt 13,3 Millionen Wähler und das politische Beben, das sie auslösen könnten, droht die gesamte Republik zu erschüttern. Schließlich geht es am Sonntag bundespolitisch um wesentlich mehr als um die Frage, wer das bevölkerungsreichste Bundesland die kommenden fünf Jahre regiert und ob Schwarz-Gelb im Bundesrat seine Mehrheit verliert. Für die Bundesregierung und Kanzlerin Angela Merkel steht viel auf dem Spiel. Verlieren CDU und FDP bei der kleinen Bundestagswahl ihre Mehrheit, dann steht auch ihre Koalition in Berlin unter enormem Druck. Einerseits hätte die Kanzlerin endlich einen Vorwand, um die umstrittenen neoliberalen Prestigeprojekte Kopfpauschale und Steuersenkung zu kassieren. Doch andererseits werden sich die Diskussionen um den zukünftigen politischen Kurs der Bundesregierung und der Richtungsstreit in der Union weiter zuspitzen. Die Suche nach Schuldigen für das wahrscheinliche Wahldesaster hat längst begonnen.

Es gehört allerdings zugleich zu den Widrigkeiten im Fünf-Parteiensystem, dass die Regierungsbildung unübersichtlich wird und der Wähler in der Wahlkabine nicht weiß, welche Regierung er bekommt, wenn er seine Partei wählt. Jamaika oder Ampel, Linksbündnis oder Große Koalition, Schwarz-Grün oder Schwarz-Gelb? Die neue politische Farbenlehre ist verwirrend. Tagesspiegel.de wirft einen Blick voraus und entwickelt sechs Szenarien für das, was dem Land NRW sowie dem Bund und seiner Regierung ab Montag bevorstehen könnte.

1. Schwarz-Grüne Experimente

Die unwahrscheinlichste Regierung ist - allen lauen Dementis zum Trotz - zugleich die wahrscheinlichste, wenn fünf Parteien in den Düsseldorfer Landtag einziehen. Ein Bündnis aus den beiden Antipoden der alten Bonner Republik wäre allerdings eine politische Sensation. NRW ist ein anderes politisches Pflaster als der Stadtstaat Hamburg oder das kleine Saarland, das niemand machtpolitisch ernst nimmt. Schwarz-Grün in Düsseldorf hätte politische Signalwirkung für den Bund und wäre zugleich ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Niemand kann einschätzen wie die Anhänger beider Parteien darauf reagieren, ob konservative Christdemokraten und linke Grüne sich zusammenraufen können. Schwarz-Grün in NRW wäre ein Zusammenprall von Kulturen.

Trotzdem. In Düsseldorf halten sich hartnäckig Gerüchte, es gäbe zwischen beiden Parteien eine Annährung sowie längst die eine oder andere informelle Absprache. Ein landespolitischer Kompromiss könnte in etwa so aussehen. In der Schulpolitik würde die Hauptschule abgeschafft, die Gemeinschaftsschule als Regelschule für den ländlichen Raum eingeführt. Im Gegenzug für massive Investitionen in alternative Energien müssten die Grünen den Bau neue Kohlekraftwerke schlucken, vor allem den Weiterbau des umstrittenen Kraftwerkes Datteln. Die Baustelle steht seit Monaten auf Grund eines Gerichtsbeschluss still. Die Atomkraft allerdings wird die Union opfern müssen, will sie sich mit Schwarz-Grün über NRW auch in der Bundespolitik eine neue machtstrategische Option öffnen. In der Landespolitik muss jedoch kein Atomausstieg vereinbart werden, in dem Bundesland stehen keine Atomkraftwerke.

Mit Schwarz-Grün hätte die Union im Bund eine zusätzliche Machtoption. Guido Westerwelle hingegen würde schäumen, ausgerechnet die ihm verhassten Grünen wären der neue Traumpartner der Union. Der Druck, sich im bürgerlichen Lager zu profilieren, würde für die FDP enorm zunehmen. Allerdings könnten die Liberalen am rechten Rand der Union einfacher um unzufriedene Wähler werben.

2. Koalition der Verantwortung

Wenn sonst nichts mehr geht, dann müssen die Großen ran. Das galt 2005 im Bund und könnte 2010 nun auch in Nordrhein-Westfalen gelten. Rüttgers und Kraft gäben ein schönes Team ab, sie verstehen und schützen sich. Nur haben viele Sozialdemokraten nach dem Absturz bei der Bundestagswahl 2009 genug von der Rolle des Juniorpartners in der Großen Koalition. An der sozialdemokratischen Basis kommt dessen Neuauflage deshalb überhaupt nicht an. Die Wunden in der sozialdemokratischen Seele sind längst noch nicht verheilt. Die Widerstände in den eigenen Reihen, die Hannelore Kraft überwinden müsste, um stellvertretende Ministerpräsidentin zu werden, sind deshalb gewaltig.

Programmatische Hürden gibt es kaum. Die Politik von Rüttgers in NRW war in weiten Teilen eine sozialdemokratische, lediglich in der Bildungspolitik hat die SPD im Wahlkampf deutlich andere Akzente gesetzt, aber das ließe sich regeln. Und für den Erhalt des Steinkohlebergbaus, den Kraft fordert, hat das Land sowieso kein Geld. Die FDP stünde unter Druck. Nach dem Fehlstart von Schwarz-Gelb würde auch im Bund der Ruf nach einer Großen Koalition in Berlin wieder laut werden.

3. Linksfront

Nicht nur rechnerisch könnte Rot-Rot-Grün nach der Wahl möglich werden. Hannelore Kraft hat ein Bündnis mit den Linken zwar weitgehend, aber nicht grundätzlich ausgeschlossen. "Regierungsunfähig" und "regierungsunwillig" hat die SPD-Spitzenkandidatin die ungeliebte Konkurrenz im Wahlkampf genannt, aber so etwas kann sich bekanntermaßen schnell ändern. Wahrscheinlich ist ein solches Bündnis nach der Wahl trotzdem nicht. Dafür sind auch die kulturellen Gegensätze noch zu groß. Wahrscheinlicher ist, dass die SPD im Falle einer Großen Koalition die kommenden Jahre nutzen wird, um ihr Verhältnis zur Linkspartei zu klären. Wechseln und nach dem Ministerpräsidentenamt greifen kann Kraft dann immer noch.

Doch nicht nur die SPD ist skeptisch, sondern auch die Linke. In der Partei ist die Hinwendung zur Realpolitik umstritten, insbesondere der Landesverband NRW gilt als fundamentalistisch, es drohen in diesem Fall heftige Flügelkämpfe. Selbst die Realos unter den Parteistrategen schätzen ein, dass eine Annäherung an die SPD im Bund leichter wäre und ein gemeinsamer Wahlerfolg 2013 mehr Chancen hätte, wenn das rot-rot-grüne Abenteuer in NRW ausfallen würde.

4. Zurück in den Osten

Selbst als Fundamentalopposition besetzt die Linke in NRW allerdings eine machtstrategische Schlüsselrolle. Von ihrem Abschneiden könnte es entscheidend abhängen, wer in den kommenden fünf Jahren das Land regiert, ob die Verhältnisse in NRW übersichtlich bleiben oder unübersichtlich werden. Nur wenn die Linke an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, hätten die traditionellen Zweierkoalitionen Schwarz-Gelb und Rot-Grün eine Chance. Für die Westausdehnung der Linken hingegen wäre eine solche Niederlage ein herber Rückschlag. Es käme für die Partei wieder stärker auf den Osten an. Bei der SPD hingegen gäbe es Champagner. Der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Lafontaine-Truppe wäre gestoppt.

5. Alles bleibt beim Alten

Einfach bleibt die politische Lage in Berlin und Düsseldorf nach Sonntag nur, wenn CDU und FDP gewinnen, wenn die Linken aus dem Landtag fliegen und Schwarz-Gelb trotz Verlusten vor Rot-Grün liegt. Zugegeben, dass ist derzeit nicht der wahrscheinlichste Wahlausgang. Aber ausgeschlossen ist diese keineswegs. Arbeiterführer Jürgen Rüttgers könnte in Düsseldorf weitermachen. Angela Merkel würde jubeln, Guido Westerwelle könnte wohl endgültig vor Kraft nicht mehr laufen. Schon am Sonntagabend würden beide eine neue Schwarz-Gelbe-Ära und einen Neustart der Bundesregierung ausrufen, die schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit wäre vermutlich für den Rest der Legislaturperiode gesichert. Merkel und Westerwelle könnten den Rest der Legislaturperiode durchregieren. Schon am Montag würden in Düsseldorf Koalitionsverhandlungen beginnen.

6. Revival eines Projektes

Vielleicht ist eine Mehrheit für Rot-Grün mehr sozialdemokratisches Wunschdenken als reale Möglichkeit. In den letzten Wochen gab es nur eine einzige Umfrage, die einen Sieg für das vor fünf Jahren beerdigte Projekt prognostizierte. Aber vor allem die SPD hofft darauf, schließlich wäre dies der einzige Wahlausgang, der die Partei vor keine Probleme und innerparteiliche Debatten stellen würde. Die schöne alte rot-grüne Welt wäre wieder da, die Sozialdemokraten hätten sich wieder lieb. Die Grünen würden zwar selbstbewusster in die Neuauflage von Rot-Grün gehen, aber die SPD würde dies im Siegesrausch akzeptieren können. Hannelore Kraft würde erklären, die SPD habe aus ihren Fehlern bei der Umsetzung der Agenda 2010 gelernt und Sigmar Gabriel würde der Bundesregierung eine konstruktive Zusammenarbeit im Bundesrat anbieten, wobei die Liste der Ausnahmen von der Kopfpauschale bis zu Steuersenkungen schon jetzt lang ist.

Die Bundesregierung hingegen käme in arge Bedrängnis und könnte nicht mal mit einer Rot-Rot-Grün-Kampagne einen entlastenden Gegenangriff starten. Schon am Tag nach der Wahl würde in Berlin die Suche nach den Sündenböcken beginnen, Rücktritte im Bundeskabinett wären nicht ausgeschlossen. Zwei heiße Kandidaten haben sich in den letzten Wochen intensiv beworben. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Wirtschaftsminister Rainer Brüderle.

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