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Wem gebe ich meine Stimme? Die Bundesbürger wollen, dass die Parteien Probleme ernsthaft ansprechen.

© Federico Gambarini/dpa

Wahljahr 2017: Deutschland entdeckt die Ernsthaftigkeit

Flüchtlinge, Trump und Brexit: Überall Krisen und Konflikte. In solchen Zeiten besinnen sich Menschen auf Bewährtes - wenn die Politik die Alltagssorgen ernst nimmt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Schluss mit lustig. Vorbei sind die Zeiten, in denen Zigtausende sich für Spaßparteien erwärmten, um ihre Geringschätzung der traditionellen Politik auszudrücken; und in denen ein Martin Sonneborn als wandelnde Satire auf herkömmliche Parteiprogramme antrat und ins Europaparlament gewählt wurde.

Die Bürger wollen schon noch lachen dürfen über Politik. 2017 drückt sich das jedoch nicht in der postmodernen intellektuellen Abgehobenheit eines Harald Schmidt aus, sondern im vergleichsweise bodenständigen Humor der „Heute-Show“.

Es steht einiges auf dem Spiel

Mehr Menschen interessieren sich wieder für Politik. Die Wahlbeteiligung bei den drei jüngsten Landtagswahlen ist gegenüber 2012 gestiegen, um vier Prozentpunkte in Schleswig-Holstein, um 5,6 in NRW, um acht im Saarland. Aus Sicht der Wähler steht einiges auf dem Spiel. Angesichts von Trump, Brexit, Flüchtlingskrise, Euro-Schwäche, Syrien- und Ukrainekrieg fürchten sie um die Grundlagen ihres Alltags.

Sie sind zwar weiter genervt vom mühsamen Kleinklein in Parlamenten und Ministerien sowie den üblichen Reibereien in Koalitionen. Die Versuchung, das System zu verspotten, hat aber nachgelassen. Die Bürger richten ihre Hoffnungen wieder auf die Altparteien; kurz zuvor galten die noch als überholt. Bei ihnen konzentrieren sich die abgegebenen Stimmen – abgesehen vom Aufstieg der AfD, aber auch deren Wählerzahl wächst nicht mehr.

Die Wähler trauen sich was

Das Phänomen an sich ist nicht neu: In Krisenzeiten besinnen sich Menschen auf das Bewährte und sind wenig experimentierfreudig. Bei den drei Landtagswahlen 2017 fällt freilich auf, dass dies nicht allen Regierungsparteien zugutekam und auch nicht generell der Partei, die jeweils den regionalen Regierungschef gestellt hatte. Das überlieferte Bild, dass man mitten in einem reißenden Fluss nicht die Pferde wechseln könne, lässt sich auf Deutschland nicht blind anwenden.

Die Wähler trauen sich durchaus, das Zugpferd zu wechseln. Das Wagnis erscheint freilich nicht so groß, da das Staatsgefährt in puncto Wirtschaft und Stabilität des Parteiensystems noch immer festen Boden unter sich hat.

Entscheidend ist in dieser Stimmungslage, welche Personen und Parteien vermitteln können, dass sie die Sorgen ernst nehmen, selbst wenn sie keine Patentlösungen anbieten können. Wähler haben zwei simple Wünsche: Probleme, die sie als dringend empfinden, sollen angesprochen werden – und nicht von Themen verdrängt werden, die den Herzen gerade nicht ganz so nahe sind. Die richtige Balance ist nicht leicht zu finden. Umfragen sind widersprüchlich.

Ein gerechtes Land?

Soziale Gerechtigkeit gehört, wenn man Deutsche gezielt danach fragt, angeblich stets zu den Prioritäten. Andererseits beruft sich Hamburgs SPD-Bürgermeister Olaf Scholz gerne auf Erhebungen, laut denen die große Mehrheit Deutschland für ein gerechtes Land hält.

Nach den Wahlniederlagen redet die SPD etwas weniger über Gerechtigkeit und etwas mehr über öffentliche Sicherheit. In NRW hatte Rot-Grün die Einbruchskriminalität herunterspielt und wollte über Schleierfahndung, wie sie in anderen Flächenstaaten möglich ist, nicht reden.

Wenn ein politisches System so auf Krisen reagiert – die Wahlbeteiligung steigt, die Parteien orientieren sich an den Alltagssorgen der Bürger, wie das der Ökonom Dennis Snower in unserem Sonntagsinterview auch von den G 20 fordert –, darf das geradezu Hoffnung machen.

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