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Wann stellen die Briten den Antrag für den EU-Austritt?

© AFP/ Odd ANDERSEN

Wann stellt London den Brexit-Antrag?: Großbritannien braucht Neuwahlen

Die Forderung nach einem raschen Antrag auf EU-Austritt ist deplatziert. Den kann nur eine durch Neuwahlen legitimierte Regierung stellen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Was für ein Demokratie-Verständnis haben Martin Schulz, Jean-Claude Juncker und andere Brüsseler Berufseuropäer? Wie kommen sie dazu, den Briten bereits am heutigen Dienstag beim EU-Gipfel den offiziellen Antrag auf EU-Austritt abzuverlangen? So reden Technokraten, für die rechtliche und demokratische Erwägungen offenbar zweitrangig sind.

Den Antrag auf Austritt stellt London, nicht die EU

Gewiss, das britische Volk hat gesprochen: für den Brexit. Aber das Vertragswerk legt die Entscheidung, wann der Austrittsantrag folgt, nicht in die Hände der EU, sondern überlässt sie der Regierung des betroffenen Landes. Da darf man von den Brüsselern Respekt vor dem EU-Recht fordern.

Und zugleich Respekt vor den Abläufen in einer Demokratie. Großbritannien findet sich in der verrückten Lage wieder, die der einst von Bertolt Brecht ironisierten gleicht: Das Volk hat sich das Vertrauen der Regierung verscherzt. Und da hier die einfachere Lösung, dass die Regierung sich ein neues Volk wählt, ausscheidet, geht es halt nur umgekehrt: Das Volk wählt sich eine neue Regierung.

Premier und Parlament sind über Kreuz mit dem Volk

Das Volk will mehrheitlich raus aus der EU. Aber keines der Verfassungsorgane, die doch das Volk vertreten sollen und von diesem gewählt wurden, ist für den Austritt. Der Regierungschef David Cameron war für Bleiben. Das Parlament würde, wenn man es denn abstimmen ließe, mit großer Mehrheit für Bleiben stimmen. Die Opposition, die zu normalen Zeiten die Alternative zu einer Regierung wäre, die das Vertrauen verloren hat, ist ebenfalls fürs Bleiben.

Was bleibt da in einer Demokratie? Entweder muss sich das Parlament auf die Hinterbeine stellen und den Gang des Verfahrens an sich reißen. Es könnte sich darauf berufen, dass das Referendum nur beratenden Charakter habe und das letzte Wort dem Parlament zukomme. Das wird angesichts der Klarheit des Volksvotums wohl nicht passieren.

Da bleiben nur Neuwahlen

Dann aber bleiben nur Neuwahlen als Alternative. Premier und Volksvertreter sind in der entscheidenden Frage über Kreuz mit der Mehrheit der Bürger. Damit steht ihr Mandat in Frage. Das Land braucht gerade jetzt Verfassungsorgane, die durch ein frisches Votum legitimiert sind. Die kleine Lösung - die Regierung tritt zurück, und das vorhandene Parlament wählt eine neue Regierung - scheidet im britischen Fall aus. Erstens, siehe oben, weil der im Referendum zum Ausdruck gekommene Volkswillen und die Parlamentsmehrheit sich widersprechen. Zweitens, weil Boris Johnson, der Nachfolgekandidat, der sich quasi natürlich aus dem Referendum anbietet, wohl keine Mehrheit im heutigen Parlament hätte. Zu viele Abgeordnete halten ihn für einen populistischen Luftikus, dem man die Verantwortung für das Land in dieser schwierigen Lage nicht übertragen dürfe.

Johnson muss, wenn er Premier werden will, von der Partei als Spitzenkandidat nominiert werden, muss als Anwärter auf den Posten des Regierungschefs Wahlkampf führen und gewinnen.

Das ist zugleich die Antwort auf das Legitimationsproblem zwei und drei. Neuwahlen würden auch dem Parlament und der Opposition neue Legitimation verschaffen. Und wären das Mandat für die neue Regierung, über den Austritt zu verhandeln. 

Die Flagge Großbritanniens weht vor Big Ben in London.
Die Flagge Großbritanniens weht vor Big Ben in London.

© AFP/Justin Tallis

Mag sein, dass Johnson so die Legitimation gewinnt, die ihm heute fehlt. Oder dass er scheitert und eine andere oder ein anderer das Rennen macht. Doch diese Auswahlprozesse sind unabdingbar in einer Demokratie. Demokratische Prozesse brauchen Zeit.

Bloß keine Eile: Zwei Jahre sind verdammt kurz

Noch ein ernstes Argument spricht gegen die Eile, mit der die Brüsseler den Antrag auf Austritt fordern. Erst mit dem Antrag beginnt die Frist von zwei Jahren zu laufen, innerhalb derer die Bedingungen und Ersatzregelungen festgelegt werden müssen. Individuellen Bürgern mag das wie eine lange Zeit erscheinen. Ist es aber nicht, wenn Großbritannien und die EU ein so umfassendes Beziehungsgeflecht bis in alle Details neu regeln müssen. Das reicht vom freien Marktzugang und der Frage, ob für einzelne Waren wieder Zölle eingeführt werden, über das Aufenthaltsrecht und die Arbeitserlaubnis für EU-Bürger in Großbritannien sowie Briten in der EU bis zur Verhandlung, was Großbritannien der EU als Gegenleistung gibt, wenn es weiter den Vorteil des Marktzugangs genießen will.

Es gibt Vorbilder für solche Vereinbarungen, zwischen Norwegen und der EU, zwischen der Schweiz und der EU. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das so endet, wie es sich die Brexit-Anhänger wünschen: freier Marktzugang bei gleichzeitiger Hoheit über die Gesetze und Bestimmungen und ohne für die Vorteile zu zahlen. Das Gegenteil ist wahrscheinlich, siehe das Abkommen mit Norwegen. Kein Abkommen mit der EU ohne Anerkennung der EU-Regeln. Zugleich wären die Briten von der gemeinsamen Beratung über diese Regeln, denen sie sich unterwerfen, ausgeschlossen. Und sie müssten einen Solidaritätsbeitrag für den freien Marktzugang entrichten.

Eben weil das alles so schwierig zu verhandeln, zu akzeptieren und politisch zu vertreten ist, braucht Großbritannien eine Regierung, an deren demokratischer Legitimation niemand ernsthaft zweifeln kann.

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