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Was tut sich unter der Reichstagskuppel? Das interessiert, je näher die Wahl rückt, Europa genauso wie die Bundesbürgerinnen und -bürger. Foto: Pawel Kopczynski/rtr

© REUTERS

Politik: Warten auf die Deutschen

Wegen der Bundestagswahl liegen wichtige Brüsseler Projekte auf Eis. Die EU-Partner hoffen auf neuen Schwung aus Berlin.

Stell dir vor, es ist bald Wahl und keinen in Europa interessiert’s. „Unser Ergebnis ist irrelevant“, sagt hörbar frustriert ein deutschsprachiger EU-Diplomat – aus Österreich, wo die Bürger am 29. September an die Urnen gerufen werden: „Alle in Europa schauen nur auf Deutschland!“

Wahlen in einem großen EU-Mitgliedstaat wirken sich seit jeher auf Europa aus, im größten zumal. Dieser Bundestagswahl aber wird in den Hauptstädten eine besonders hohe Bedeutung beigemessen. „Diesmal ist es echt wichtig“, sagt ein EU-Beamter in Brüssel, „die Leute halten sprichwörtlich den Atem an, bis sie sehen, was die Wahl in Deutschland bringt.“

Der Grund dafür ist klar. Keine Bundesregierung zuvor hat das Geschehen in der Gemeinschaft dominiert wie diese. Die traditionelle wirtschaftliche Stärke der Bundesrepublik kommt in der Euro-Krise, da viele EU-Staaten finanziell von den anderen abhängig wurden, mehr denn je zum Tragen. Hinzu kommt das Bewusstsein für diese neue Macht. Ein Belgier, der häufig an Verhandlungen im Ministerrat auf Beamtenebene teilnimmt, beschreibt das so: „Vor wenigen Jahren noch war Deutschland der Zahlmeister in Europa, ohne sein ökonomisches Gewicht in die Waagschale zu werfen. Jetzt läuft es anders. Während wir als Belgier immer mit einer Rückfallposition in die Verhandlungen gehen, sagt der Berliner Vertreter schon mal: ,Das ist unsere Position, und entweder wir machen es so oder gar nicht.’“

Nichts Unangenehm-Europäisches sollte den Politikern von Union und FDP denn auch den Wahlkampf erschweren, weshalb viele wichtige Gesetzesvorlagen etwa zur Vergemeinschaftung von Bankenkontrolle und -haftung oder den CO2-Werten für Fahrzeuge in der Warteschleife hängen. „Diese Wahlen paralysieren den Kontinent jetzt seit Monaten“, sagt die Publizistin Judy Dempsey, die im Auftrag der Carnegie-Stiftung gerade Kanzlerin Angela „Merkels unerledigte Aufgaben“ beschrieben hat. Und der belgische Diplomat hofft, dass bald wieder etwas geschieht: „Deutschland kann die heißen Eisen ja nicht ewig auf Eis legen.“

Über den aktuellen Stillstand herrscht Einigkeit; die Erwartungen zur deutschen Europapolitik, wenn sie in Berlin wieder stattfindet, gehen dagegen auseinander. London etwa hofft, dass Merkel in der bestehenden Koalition weitermachen und mit ihr nach der Europawahl ein neuer EU-Vertrag ausgearbeitet werden kann, der Kompetenzen von der europäischen Ebene in die Mitgliedstaaten zurückholt. Premier David Cameron hat schließlich versprochen, das seinen Wählern zur Abstimmung vorzulegen. „Wir“, sagte der britische „Financial Times“-Kolumnist Gideon Rachman über Merkel, „setzen alles auf sie.“ Für die Niederlande gilt das ähnlich.

Andernorts existiert die Hoffnung, eine wahrscheinlich wiedergewählte Angela Merkel werde, wie es im Umfeld von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy heißt, „etwas entgegenkommender“ auftreten. Nicht nur deshalb, weil dann keine Rücksicht mehr auf eine Wahl genommen werden muss, sondern auch „weil Merkel in ihrer dritten und vielleicht letzten Amtsperiode an ihr politisches Erbe denken könnte“, wie es der Diplomat aus Belgien ausdrückt. Der möglicherweise wiederkehrende Druck der Krise könnte ein Übriges tun.

Die Wünsche in Irland, Griechenland oder Spanien sind bekannt: Es geht darum, dass der Rettungsschirm ESM auch für Altlasten in den Bankbilanzen aufkommt, um einen Neustart der Wirtschaft zu beschleunigen. Italien oder Frankreich setzen weiter auf eine Vergemeinschaftung der Schuldenaufnahme über Euro-Bonds – oder zumindest einen Tilgungsfonds für Altschulden. „Um die Krise zu bannen“, sagt ein französischer Regierungsvertreter, „müssen wir weiter dieselbe Diskussion führen: Was ist die richtige Mischung zwischen finanzieller Solidarität und Etatdisziplin?“

Die Irin Dempsey konstatiert ebenfalls, dass Deutschland unter Merkel „nicht die Erwartungen erfüllt“ habe und „kein noch so großes taktisches Geschick die Euro-Krise verschwinden lassen wird“. Deren nächste Welle werde „offenbaren, ob sich Merkel endlich zu einem integrierten Europa bekennt“. Der Brite Rachman ist nicht so kritisch. Es sei Merkels Verdienst, dass trotz Milliardenbürgschaften „die politische Debatte in Deutschland noch immer in der Mitte stattfindet“.

Angesichts der Stimmung unter den Bundesbürgern, die EU-Solidarität zwar befürworteten, aber eben in Grenzen, „wird sich in der deutschen Europapolitik wahrscheinlich gar nichts ändern“, glaubt Rachman. „Wir rechnen nicht mit einem fundamentalen Wandel“, heißt es auch auf den Fluren der EU-Kommission oder dem Ministerrat gegenüber. „Manche träumen von einem neuen Deutschland nach der Wahl“, sagt der Vertreter eines Nachbarlandes, „aber das wird aus meiner Sicht ein Traum bleiben.“

Sehr aufmerksam ist in Brüssel der Erfolg des immer mal wieder gegen Europa stichelnden Horst Seehofer bei der bayerischen Landtagswahl am vergangenen Wochenende registriert worden. Merkel könne in der nächsten Legislaturperiode auch von rechts unter Druck kommen – ohnehin dann, wenn die eurokritische Alternative für Deutschland ein gutes Ergebnis erziele, heißt es. „Dann könnte die Bundesregierung noch rigider gegenüber Europa und noch orthodoxer in der Wirtschaftspolitik auftreten“, befürchtet der EU-Diplomat aus Belgien.

Mehr europapolitisches Entgegenkommen wird am ehesten noch für den Fall einer großen Koalition erwartet. „François Hollande würde sich freuen“, sagt ein Londoner Regierungsvertreter, der die deutsch-französischen Beziehungen auf einem „Tiefpunkt“ sieht. Auch so aber wird sich Frankreichs Staatschef, so die allgemeine Einschätzung, mehr als bisher auf eine für vier weitere Jahre wiedergewählte Merkel einlassen müssen. Dass das mit der SPD als Juniorpartner am besten ginge, verhehlen Frankreichs Diplomaten nicht. „Mit einer großen Koalition“, sagt einer von ihnen, „gäbe es mehr Spielraum zum Manövrieren.“

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