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Politik: Warum gehören die Türken zu Europa, Herr Rühe?

Der Ex-Verteidigungsminister über die Zukunft der EU und den Irak-Konflikt

Herr Rühe, der Einsatz deutscher Soldaten in AwacsFlugzeugen wurde schon während des ersten Golfkrieges 1990/91 heftig diskutiert. Erinnern Sie sich?

Ich war zwar damals noch nicht Verteidigungsminister, aber die deutschen Soldaten sind damals an Bord der Maschinen geblieben, die dann Flüge in die Türkei durchgeführt und auch das Gebiet des Irak überwacht haben.

Da man die Radargeräte der Awacs-Maschinen nicht einfach an der Grenze abschalten kann, wäre Deutschland im Falle eines Irak-Kriegs im Grunde nicht direkt an einer Militäraktion beteiligt?

So wie der Bundeskanzler das jetzt gesagt hat, ist es tatsächlich etwas verkürzt. Natürlich geht es in so einem Konflikt auch darum, die Sicherheit eines Nato-Mitgliedstaates wie der Türkei an seinen Grenzen zu gewährleisten. Aber ganz sicher kann man mit diesen Flugzeugen auch weit in den Irak hinein schauen, und das finde ich auch in Ordnung. Ich halte für unerlässlich, dass unsere Soldaten im Falle eines Konflikts an Bord bleiben.

Die Maschinen können aber auch zur Vorbereitung eines Angriffs dienen …

Das sollte man auch nicht verschweigen. Ich rate der Bundesregierung, das ganz offensiv zu vertreten und die Bevölkerung über die Möglichkeiten der Maschinen und ihre Verwendung zu informieren.

Hilft diese Position der Bundesregierung, aus der außenpolitischen Sackgasse wieder herauszukommen?

Nein, damit kann nur vermieden werden, nicht noch tiefer hinein zu kommen. Es ist schlimm genug, wenn man wichtige nationale Beiträge verweigert, aber das Allerschlimmste ist, wenn man gemeinsame Instrumente durch einen deutschen Sonderweg zerstört. Ich bin der Meinung, dass wir vor allem in Europa mehr komplementäre militärische Strukturen brauchen. Wichtig ist, dass man sich abstimmt, dass nicht jeder alles macht. Aber man muss sich auf den anderen verlassen können.

Wie soll Deutschland sich jetzt in der Irak-Frage verhalten?

Wir müssen eng mit den anderen europäischen Nationen zusammenarbeiten. Wir brauchen eine gemeinsame Haltung. Wie schätzen wir den Waffenbericht des Irak ein? Welche Konsequenzen muss das haben? Und wir müssen gemeinsam im Weltsicherheitsrat auftreten. Wir planen im übrigen am 23. Januar in Berlin eine gemeinsame Sitzung der Auswärtigen Ausschüsse des deutschen und französischen Parlaments, bei denen auch die Außenminister auftreten sollen. Und dabei geht es natürlich auch darum, über den Irak zu sprechen. Deutschland muss wieder in den europäischen Mainstream gezogen werden.

Ein weiterer Streitpunkt in der Irak-Frage ist, ob Deutschland Israel Fuchs-Transportpanzer liefern soll …

Die Lieferung von Transportpanzern lässt sich mit einer möglichen Bedrohung Israels durch den Irak nicht begründen. Deswegen rate ich dazu, das nicht jetzt in diesem Zusammenhang zu entscheiden, sondern die Frage im nächsten Jahr einzubetten in den weiteren Verlauf des Nahost-Prozesses. Dagegen steht die Lieferung von Patriot sehr wohl mit einer möglichen Bedrohung durch den Irak im Zusammenhang.

Einige Ihrer Kollegen aus der Union sind der Meinung, Deutschland müsse die Transportpanzer wegen des Sonderverhältnisses zu Israel ohne Wenn und Aber liefern …

Das sehe ich nicht so. Ich habe mich auch als Verteidigungsminister, was militärische Hilfe für Israel angeht, immer in der Tradition deutscher Verteidigungsminister gesehen. In meiner Amtszeit habe ich sehr viel für Israel getan und stehe auch voll dazu. Aber man muss das immer ganz präzise begründen. Es hat nichts mit dem Irak zu tun, das ist mein entscheidendes Argument. Ich halte auch nichts davon, von defensiv und offensiv zu sprechen. Natürlich werden diese Panzer auch auf der Westbank eingesetzt, um israelische Soldaten zu schützen, die in einen Einsatz fahren.

Sie vermuten ein politisches Koppelgeschäft? Deutschland liefert, weil wir uns unbeliebt gemacht haben …

Der Verdacht liegt nahe. Die Bundesregierung hat dort Fehler gemacht mit der Verwechslung der Füchse und sie hat in anderen Bereichen nicht genug getan. Das aber ist kein Grund, jetzt eine solche Entscheidung zu treffen. Für später schließe ich das nicht aus.

Auf die Bundeswehr kommen durch die schnellen Eingreiftruppen der EU und der Nato neue Aufgaben zu. Reichen die rechtlichen Voraussetzungen aus?

Bisher sind wir immer noch schnell genug zu Entscheidungen gekommen. Im Notfall kann ja die Bundesregierung entscheiden und nachher das Parlament fragen. Aber Sie haben Recht: Wenn wir eine Nato-Interventionstruppe bekommen, dann müssen wir uns überlegen, wie wir das in Deutschland organisieren. Es gibt dazu auch im Auswärtigen Ausschuss Überlegungen. Es muss grundsätzlich ein Verfahren gefunden werden, das uns ermöglicht, innerhalb von fünf Tagen auch deutsche Soldaten einzusetzen. Sonst legen wir die anderen lahm.

Eine Generalermächtigung vom Parlament?

Nein, das nicht. Sondern ein Zusammenwirken von Parlament und Regierung, aber wie das im Einzelnen aussehen wird, da würde ich wirklich gern zunächst mal Sachverständige hören, nationale und auch internationale. Das Urteil von Karlsruhe, das im Notfall der Bundesregierung Entscheidungsgewalt gibt, reicht auf keinen Fall aus. Denn dann wäre ja der allgemeine Fall der Notfall.

Doch ein Entsendegesetz?

Ja, das könnte sein.

Sie sind seit 1980 im Auswärtigen Ausschuss und sind jetzt dessen Vorsitzender als Nachfolger von Hans-Ulrich Klose. Was halten Sie davon, dass die SPD dieses Amt nicht mehr wollte?

Die Sozialdemokraten haben nicht verzichtet. Es geht ja nach dem Zugreifverfahren. Ich habe Angela Merkel gesagt, ich würde das eigentlich am liebsten machen – lieber als weiter stellvertretender Fraktionsvorsitzender zu sein. Aber es funktioniert nur, wenn die CDU als erstes greift. Das hat sie mir zugesagt und auch eingehalten. Und ich glaube, es birgt auch Chancen. Ich war gerade in Paris. Dort war man verwundert, dass ein Nicht-Koalitionsmitglied diesen wichtigen Ausschuss führt. Aber ich denke, dass auch die Opposition im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik politische Interessen der Bundesrepublik Deutschland wahrnehmen kann.

Sie sehen sich in einer Verantwortungsrolle für das gesamte Land?

Ja, ich bin Vorsitzender des Ausschusses und aller Mitglieder dort und keine parteipolitische Speerspitze mehr. Das bin ich in Führungsfunktionen, in der Partei und der Fraktion, aber nicht als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.

Sind Sie auch ein wenig der außenpolitische Reparaturbetrieb der Regierung?

Das würde zu anmaßend klingen. Aber es ist doch gut, wenn es gelingt, bestimmte Dinge zu verändern, zu ergänzen und mitzuhelfen, deutsche Interessen zu vertreten, wo sie vielleicht in Gefahr sind. Und mein Eindruck aus den ersten Wochen ist schon, dass man etwas erreichen kann.

Sie waren 1993 einer der ersten prominenten westlichen Politiker, die sich für die Ost-Erweiterung der Nato eingesetzt haben. War der Gedanke damals richtig?

Ja natürlich. Ich bin sehr stolz darauf. Damals war ich mit meiner Meinung in der Bundesregierung sehr einsam und auch in der Fraktion praktisch ohne Unterstützung. Die Nato-Erweiterung ist eine Erfolgsstory. Und die ist nicht von den Militärs angeregt worden, denn die waren immer skeptisch. Sie ist auch nicht von westlichen Führern angeregt worden, sondern es waren die früheren Dissidenten im Zentraleuropa, die dann Staatspräsidenten wurden, wie Havel und Walesa. Die sagten, ihr könnt uns nicht im Niemandsland stehen lassen. Wir haben die selben Grundwerte wie ihr. Es waren die früheren Bürgerrechtler aus Ost-Mittel-Europa, die gesagt haben, wir gehören jetzt zu euch, wir müssen Jalta beendeten, wir müssen die Teilung Europas überwinden, aber dann müssen wir auch im selben Bündnis sein, wie ihr. Das war ein fünfjähriger Kampf zwischen 1992 und 1997 bis zur Konferenz in Madrid.

Sie vertreten auch in der Frage einer EU–Mitgliedschaft der Türkei eine andere Position als die Union …

Wir müssen Extreme vermeiden. Man darf nicht sagen, die Türkei wird niemals Mitglied der EU. Das Land braucht diese Perspektive. Das habe ich als Regierungsmitglied vertreten, und dieser Meinung bin ich auch jetzt. Davon scheint sich die Partei abzuwenden. Man darf aber auch diesen Prozess nicht zu schnell vorantreiben. Ich habe auch bei den Gesprächen in Paris dafür plädiert, dass man die Entscheidung, ob und wann man Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnimmt, nicht ohne die zehn neuen Mitglieder trifft. Mein Eindruck ist, dass durch die Beschlüsse von Kopenhagen die Europäische Kommission in zwei Jahren objektiv und sehr streng prüfen muss, ob die Türkei die politischen Anforderungen erfüllt. Und dann müssen Ende 2004 alle 25 Staaten entscheiden, ob und wann man Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnimmt.

Die Ängste vor einer fremden Kultur sind innerhalb der Union unübersehbar …

Die Türkei hat immer eine Grenze mit dem Irak gehabt, die Türkei hatte schon immer Anatolien und nicht nur Istanbul. Die Frage einer Mitgliedschaft der Türkei in der EU stand schon immer in einem Kontrast zur Vorstellung derjenigen, die vor allen Dingen eine möglichst weitgehende politische Union haben wollten. Und deswegen kann man nicht so tun, als ob es völlig neue Gesichtspunkte gibt. Im übrigen, bevor die Entscheidung über die Mitgliedschaft getroffen ansteht, wird die Europäische Union mindestens 30 Mitglieder haben. Vermutlich werden Rumänien und Bulgarien dabei sein, Kroatien und vielleicht Mazedonien. Man darf zwar bei den Kriterien kein Auge zudrücken, aber ich finde, es ist auch eine weltpolitische Verantwortung Europas. Wenn es gelingt, einen so großen Staat mit einer muslimischen Bevölkerung auf Dauer mit Demokratie und Menschenrechten zu verbinden, dann kann das auf die 1,8 Milliarden Muslime auf der ganzen Welt eine enorme Auswirkung haben. Das wäre, wenn das gelingt, ein weltpolitischer Beitrag der europäischen Stabilisierungspolitik.

Und für Deutschland?

Ich glaube, dass vielen Deutschen noch nicht ausreichend bewusst ist, wie eng unser eigenes Schicksal mit dem Schicksal der Türkei verbunden ist. Nicht zuletzt durch die drei Millionen Türken, die bei uns leben. Denn wenn die Türkei wirklich mal abdriften würde – und wir haben ja besorgniserregende Tendenzen im weltweiten Islam – dann hätte das enorme Auswirkungen auf die innere Sicherheit bei uns. Und das sieht man auch in Frankreich so, wo mit fünf Millionen die meisten Muslime in Europa leben. Wir sind uns einig, dass wir in unseren beiden Ländern Debatten führen müssen über die europäischen Muslime. Wir brauchen eine Versachlichung der Diskussion. Ich habe keine Illusionen, wie lang der Weg ist, aber ich finde, wir sollten die zwei Jahre nutzen für eine wirkliche unpolemische Debatte über die Türkei.

Lässt sich solch eine Debatte überhaupt sachlich führen? Es werden schon erste Stimmen aus der CSU laut, man müsse dann mal über eine Volksabstimmung nachdenken …

Ja, die Gefahr ist da und der muss man entgegen wirken. Wir haben kein Referendum vorgesehen. Aber wenn es in zehn, zwölf oder 15 Jahren um eine konkrete Beitrittsentscheidung der Türkei geht, muss man damit rechnen, dass eine Reihe von Ländern Volksabstimmungen durchführen. Auch Frankreich. Und die werden nur Erfolg haben, wenn wir die Bevölkerung davon überzeugen, dass wir Europa nicht überbelasten oder gar zerstören durch eine türkische Mitgliedschaft. Wir müssen zu einem interkulturellen Dialog kommen. Die europäischen Muslime sind, wenn wir sie integrieren in Europa, unsere natürlichen Verbündeten. Denn sie treten im Gegensatz zu den Fundamentalisten für die Trennung von Staat und Kirche ein. Ihre Stimmen müssen unter Muslimen weltweit mehr Gewicht bekommen.

Das Gespräch führten Gerd Appenzeller, Robert Birnbaum und Sven Lemkemeyer.

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