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Politik: Was alles möglich ist

WEIHNACHTSBOTSCHAFT

Von Bernd Ulrich

Alle Jahre wieder recken sich die moralischen Zeigefinger himmelwärts. In Predigten, Leitartikeln und Fernsehansprachen wird gewarnt vor zu viel Konsum an Weihnachten, vor der verderblichen Wirkung des Materiellen auf die Nächstenliebe. Man liest das gern, am liebsten, wenn alle Geschenke gekauft sind und wenn man vom Wein für den ersten Weihnachtstag schon mal gekostet hat. Wohlig mischt sich dann das schlechte Gewissen mit dem anschwellenden Genuss.

Doch in diesem Jahr müssen wir noch ein zweites schlechtes Gewissen haben, eines, das uns geradewegs das Gegenteil vorwirft: Ihr habt nicht nur zu viel gekauft, sondern auch zu wenig! So wird das nichts mit der Konjunktur, Deutsche. Das ist verwirrend: zu viel, um den Geist der Weihnacht noch spüren zu können, und zu wenig, um die Konjunktur anzukurbeln.

Mathematisch veranlagte Moralisten könnten daraus natürlich den Schluss ziehen, dass weniger Konsum geradewegs in gleichen Teilen zu mehr Andacht führt – Gedenken statt Schenken. Eine sympathische Rechnung, nur leider völlig weltfremd. Denn wahrscheinlich mischt sich in diesem Jahr unterm Weihnachtsbaum beides: die leise Verärgerung, dass der Geschenkeberg etwas niedriger ist, mit der schweren wirtschaftlichen Misere, die alle mit Bangen ins nächste Jahr schauen lässt.

Und beides hat ja auch denselben Grund: Deutschland ist alt geworden. Nein, nicht die Demografie, die sei hier mal beiseite gelassen. Nicht die Alten sind alt, sondern das Land insgesamt. Errungenschaften, Verdienste, Traditionen, Erbschaften, Besitzstände und Gewohnheiten prägen unser Leben. Ob man diesen Prozess einer gewissen Seniorisierung eher gut findet oder eher schlecht, das spielt dabei keine Rolle mehr. Der etwas kleinere Wohlstandshügel unter den Weihnachtsbäumen signalisiert uns, dass die Phase vorbei ist, da wir immer besser und sicherer und bequemer leben konnten. Schade drum? Ja.

Und nein. Denn das Land hat trotz Wiedervereinigung und einem überfälligen Regierungswechsel 1998 seinen Möglichkeitssinn verloren, oder sagen wir vorsichtiger: Meriten wurden wichtiger als Möglichkeiten. Das eben bedeutet das Älterwerden – die ungelebten Leben werden zahlreicher. Das schon gelebte Leben dominiert das noch kommende. Und nun, da der Wind unter unsere Kaschmirdecken fährt, nun merken wir, dass unsere Kinder, Mut- und Arbeitslosigkeit von demselben künden – von einem Mangel an Zuversicht. Wir glauben nicht an die Nation, jedenfalls nicht so quasireligiös wie die Amerikaner und nicht so kulinarisch-nuklear wie die Franzosen. Wir glauben nicht einmal mehr an die Deutsche Bank.

Und wir glauben nur wenig an den Gott, dessen Geburt heute eigentlich gefeiert wird. In jedem Jahr vor Weihnachten werden denn auch in Zeitschriften tausend gute Argumente aufgetürmt, warum es diesen Jesus wahrscheinlich nie gegeben hat. Oder mehrere Jesusse oder so. Doch sind solche naiv-klugen Einwände nicht der Grund dafür, dass man mit etwas leerem Blick auf die Krippen schaut, die jetzt überall herumstehen. Es liegt wohl eher daran, dass man es nicht nötig hatte, sich mit dieser Art jenseitigem Reichtum zu beschäftigen.

Wenn man genauer in die Krippe schaut, dann zeigt sich das Revolutionäre an diesem epochalen Ereignis (oder an dieser genialen Erfindung, je nach Belieben): Das Baby, das Gott ist und Mensch, stellt die wohl radikalste Beschwörung des Möglichkeitssinnes dar. Dass alles möglich ist auf dieser Welt, lässt sich in jedem Kindergesicht ablesen. Das Bild vom Stall will diese Perspektive auch den Erwachsenen eröffnen: Das Göttliche wird allzu menschlich, das Hilflose mächtig. Jünger als vor 2002 Jahren, jünger als in dem Moment, da heute die Glocken läuten, kann die Welt nicht sein.

Man muss an all das nicht glauben. Aber für das Altenheim Deutschland, das sich verjüngen muss, ist es vielleicht ein recht tröstlicher Gedanke.

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