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Politik: Was für eine Geschichte

Von Albrecht Meier

Was verändert Europa mehr: Der 11. September, der immer schnellere Takt der Globalisierung, die Abwanderung von Arbeitsplätzen aus Westeuropa – oder ein Stück Papier? Wer an die normative Kraft des Faktischen glaubt, wird nicht lange überlegen. Ein Stück Papier, und das ist die europäische Verfassung vor ihrem Inkrafttreten zunächst einmal, scheint weniger zu bewirken als die realen Zwänge, die unser gutes altes Europa Tag für Tag neu formen. Und doch haben die Ereignisse der letzten Tage und Wochen gezeigt, dass die geplante EUVerfassung bereits eine größere Wirkung entfaltet als vermutet.

Das haben auch die Staats- und Regierungschefs zu spüren bekommen, die gestern das Vertragswerk im römischen Kapitol unterzeichneten. Es ist schon eine besondere Ironie der Geschichte, dass die Krise um das Team des portugiesischen Kommissionschefs José Manuel Barroso, die die Zeremonie überschattete, ohne die Verfassung wohl kaum eine solche Dynamik bekommen hätte. Denn dort steht unter anderem geschrieben, dass der Präsident der EU-Kommission nicht irgendeiner beliebigen Partei angehören soll. Mit anderen Worten: Barroso wäre nicht ins Amt gekommen, wenn die Konservativen nicht als stärkste Kraft aus den Europawahlen hervorgegangen wären – und im Vorgriff auf die Verfassung das Amt des Kommissionschefs für sich beansprucht hätten. Mit der Ernennung Barrosos war aber in Europa der politische Geist aus der Flasche. Er wird sich kaum wieder zurückstopfen lassen. Das hat in dieser Woche der Eklat um die Mannschaft des Portugiesen gezeigt.

Der Verfassungstext, der da Wirkung gezeigt hat, sieht neben der Stärkung des Europaparlaments auch einfachere Strukturen für die EU und Schutzrechte für die Bürger vor – eben die Grundzüge eines weltweit einmaligen Gebildes, das zwar kein Staat ist, aber eben auch mehr als ein loses Bündnis. Leidenschaften wird der Text bei den Bürgern nicht entfachen, aber welche Verfassung tut das schon? Entscheidend ist vielmehr, dass sich die EU – wo auch immer ihre Grenzen liegen mögen – auch in der Welt von morgen ihre Chance wahrt, handlungsfähig zu bleiben. Da wirkte das Zeremoniell von Rom fast wie ein zweiter Gründungsakt: An dem Ort, wo einst das Nachkriegs-Europa entstand, erklärten die Staats- und Regierungschefs gestern per Unterschrift ihr Einverständnis, dass ihre Staaten enger zusammenrücken.

Ob allerdings das Papier jemals Gültigkeit haben wird, steht auf einem anderen Blatt. Denn die Verfassung muss in den kommenden zwei Jahren erst einmal in allen 25 Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Dabei sind jetzt schon etliche Hürden erkennbar. Es ist keineswegs nur blanker Populismus, der zur größten Gefahr für den Vertrag werden könnte. Dort, wo das Volk über die Verfassung befragt wird, stellt sich auch in den großen Parteien die Gretchenfrage: für oder gegen Europa? Weil die Verfassung im politischen Tagesgeschäft instrumentalisiert zu werden droht, könnte auch ihr Grundgedanke in den Hintergrund geraten. Der Ausgang der Volksabstimmungen in Frankreich, Großbritannien oder Tschechien – um nur drei Beispiele zu nennen – ist daher völlig offen.

Europa macht sich mit der Ratifizierung der Verfassung auf einen Weg, dessen Verlauf noch keiner kennt. Aber eines steht heute schon fest: Das neue Machtbewusstsein – das kann dem Europaparlament niemand mehr nehmen.

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