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Politik: Was macht uns wirklich frei?

Von Richard Schröder

Die menschliche Willensfreiheit, haben einige Hirnforscher behauptet, sei bloßer Schein, denn es sei durch Experimente bewiesen, dass die entsprechenden physiologischen Prozesse in unserem Gehirn abgelaufen sind, ehe wir uns bewusst entscheiden. Zu all dem, was dazu und dagegen schon vorgebracht worden ist, noch zwei befremdliche Glossen.

1. Die These widerspricht Artikel 1 des Grundgesetzes. Wie das? Wissenschaftliche Ergebnisse können doch nicht dem Grundgesetz widersprechen, zumal es Forschungsfreiheit und Meinungsfreiheit garantiert! An diesen Freiheiten soll auch gar nicht gerüttelt werden. Experimentell ermittelte Korrelationen von Daten können in der Tat nicht dem Grundgesetz widersprechen, wohl aber leichtfertige Folgerungen aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen oder Theorien. Ein prominentes Beispiel dafür war der Sozialdarwinismus. Artikel 1 des Grundgesetzes stammt aus den Erfahrungen mit den mörderischen Konsequenzen einer pseudowissenschaftlichen Theorie. In der DDR haben wir die freiheitswidrigen Konsequenzen einer anderen pseudowissenschaftlichen Theorie kennen lernen müssen. Für vergleichbar gefährlich halte ich jene These nicht, aber für pseudowissenschaftlich.

Wie das? Weil auch die, die sie vertreten, nicht nach ihr leben. Sie wollen uns mit Gründen davon überzeugen, dass uns Gründe nicht überzeugen können. Sie treten nicht als Automaten auf, die aufgrund physiologischer Hirnprozesse den Mund öffnen und Laute von sich geben müssen, deren Abfolge ihnen erst bewusst wird, nachdem sie durch Hirnprozesse festgelegt sind. Sie wollen uns überzeugen. Sie setzen voraus, dass sie und ihre Hörer Wesen sind, die (bewusst) Gründe würdigen und daraus Konsequenzen ziehen können – und widerlegen ihre These. Sie ist nicht alltagstauglich. Es gibt Sachverhalte, die naturwissenschaftlichen Methoden verschlossen sind. Die Menschenwürde gehört dazu. Man kann sie weder messen noch beobachten, aber anerkennen oder missachten. Ihr müsst eure Forschungsergebnisse falsch interpretiert haben, wenn ihr zu der Erkenntnis gekommen sein wollt, bewusste Entscheidungen und Selbstbestimmung aus Gründen könne es nicht geben.

2. Es gibt eine Schrift von Martin Luther mit dem Titel „Vom unfreien Willen“. Warum regst du dich dann so auf über die Leugnung des freien Willens, wenn die These so alt schon ist und außerdem protestantisch? Weil Luther die Freiheit des menschlichen Willens weder in einem physikalischen noch im alltäglichen Kontext bestreitet, sondern im Verhältnis zu Gott. Unfrei sei der Mensch, solange er sich selbst erlösen und selbst Gott sein will. Wahre Freiheit gebe es nur als Erlösung von diesem Zwang. Was uns frei und was uns unfrei macht, das halte ich immer noch für die wichtigere Frage. Die wird uns durch Hirnforschung nicht abgenommen.

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